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Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Miller Santo
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klangen besorgt.
    Seufzend ging Anna zurück zum Haus. Gut zu wissen, dass man gebraucht wurde. Der Tau auf den Olivenblättern löste sich unter den ersten warmen Strahlen in kleine Nebelwölkchen auf. Während sie den Hügel hinauflief, dankte sie Gott im Stillen, dass die Erstgeborenen stets in ihrer Nähe geblieben waren, bei dem Hain, der roten Erde und dem schönen großen Haus.
    »Da bist du ja!«, rief Elizabeth, die von allen nur Bets genannt wurde.
    »Du kannst doch nicht allein da draußen in der Dunkelheit herumwandern!«, rief Calliope.
    »Der Hund war doch dabei«, murmelte Anna. Es überraschte sie immer wieder, wie alt ihre Tochter und ihre Enkelin schon aussahen.
    »Mir ist es trotzdem nicht recht«, sagte Bets. Sie war eine robuste Frau mit sehr dunklem Teint, wie ihn außer Anna sonst niemand in der Familie hatte. Ihre ebenfalls dunklen Brauen waren buschig, und sie hatte tief liegende Augen. Nächstes Jahr würde sie neunzig werden, aber da sie die Gene der Kellers geerbt hatte, sah man ihr das hohe Alter kaum an. Ihre Haare waren vor zehn Jahren ergraut, doch in letzter Zeit wurden sie heller und glänzten nun in der Morgensonne wie Silber.
    »Mir auch nicht«, rief Callie durch das Fliegengitter an der Tür.
    Anna zog die matschigen Stiefel aus und setzte sich in einen der Schaukelstühle auf der Veranda. Callie sollte auch zu ihren grauen Haaren stehen, dachte sie. Momentan waren sie in einem ordinären Blond gefärbt und kräuselten sich an den Spitzen. Callie war Mitte sechzig, wollte sich aber nicht damit abfinden, dass sie langsam aus der Form geriet. Um ihrem Busen Kontur zu geben, zwängte sie sich in Bustiers und Korsetts, obwohl das längst aus der Mode war. Doch was Anna wirklich aufregte, war ihr seltsamer Gang. Sie hinkte seit dem Unfall und hatte das zu einer seitlich gebeugten, aufreizenden Körperhaltung stilisiert. Callie behauptete, sie wäre schon immer so gelaufen, doch Anna war sicher, dass ihre Enkelin damit erst angefangen hatte, nachdem ihr Bein zerfetzt worden war.
    »Grandma, hörst du mir zu?«, fragte Callie durch die Fliegengittertür. »Was meinst du?«
    »Was meine ich wozu?«, fragte Anna zurück.
    Bets öffnete die Tür einen Spalt. »Ob wir dem Doktor ein Mittagessen anbieten sollen?«
    »Sag Grandma, sie soll die matschigen Stiefel ins Gras stellen, ich werde sie später sauber machen«, sagte Callie. Dann zählte sie auf, was im Kühlschrank war, und überlegte, ob die Zeit noch reichte, um einen Braten aus der Tiefkühltruhe aufzutauen.
    »Es ist doch bloß ein Mittagessen«, sagte Anna. Es war Callies glorreiche Idee gewesen, den Genforscher einzuladen. Ihre Enkelin mystifizierte ihre Familie und wollte sich immer von den anderen abheben, etwas Besonderes sein, schon seit frühester Jugend. Anna gab Callies Vater die Schuld dafür, denn er hatte ihr auch diesen sonderbaren Namen verpasst. Calliope dachte sie, ein hübsches Wort, aber ein grauenhafter Name. Sie kürzte ihn deshalb meistens ab.
    »Alles in Ordnung, Grandma?«, rief Callie erneut durch die Gittertür.
    Anna versicherte, dass alles in bester Ordnung sei, und bat um ein Glas heißes Wasser mit einem Tropfen Olivenöl und einem Zitronenschnitz. Mit dem Korb auf dem Schoß schaukelte sie leicht vor und zurück, sortierte die schlechten Oliven aus und warf sie den fetten Drosseln hin, die im Gras nach Regenwürmern stocherten.
    »Ist das dein Geheimrezept?« Callie reichte ihr das Glas und setzte sich neben sie in den anderen Schaukelstuhl. Wegen ihres schlimmen Beines konnte sie nie lange stehen. »Sollen wir Amrit sagen, dass eine Blutanalyse nicht nötig ist, weil das Geheimnis unseres langen Lebens eine Mischung aus Zitronensäure, Olivenöl und Wasser ist?«
    »Amrit? Ich dachte, sein Name wäre Hashmi. Doktor Hashmi«, sagte Anna. Fremde merkten oft nicht, dass sie noch im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten war. Nur weil sie alt war und ihre Haut wie verschrumpeltes Leinen aussah, gingen die Leute wie selbstverständlich davon aus, dass sie um sich herum nichts mehr mitbekam. Den Namen des Forschers hatte sie wochenlang geübt. Sie hatte sich sogar ein paar Kenntnisse über sein Forschungsgebiet angelesen, damit von Anfang an klar war, dass sie zwar alt aber noch lange nicht gebrechlich war.
    Callie lief rot an. »Nein, nein, natürlich hast du recht, wir sollten ihn auf jeden Fall mit Doktor Hashmi anreden. Ich habe nur so oft mit ihm telefoniert, dass er mir schon vorkommt wie ein alter

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