Der Olivenhain
die Nachrufe in der Zeitung zu lesen, und legte eine Liste der dort aufgeführten Todesursachen an. An ihrem einhundertzehnten Geburtstag hatte sie bereits einhundertfünfzig Todesfälle inventarisiert, die entweder durch Herzinfarkt, Krebs, Schlaganfall, einen Sturz, Ertrinken, Selbstmord oder einen Schlangenbiss verursacht worden waren. Kein einziger Fall ließ sich auf zu hohes Alter zurückführen. In dem Jahr setzte sie die Verlängerung ihrer Fahrerlaubnis um weitere zehn Jahre durch und sprang zum ersten Mal mit dem Fallschirm aus einem Flugzeug. Nichts davon war dem Kidron Observer auch nur eine Zeile wert.
Dann beauftragte sie Bets’ Schulfreundin Louise Bell, die drei Tage die Woche ehrenamtlich in der Bibliothek aushalf, herauszufinden, wer derzeit der älteste Mensch auf der Welt war. »Du meinst, außer Methusalem?«, fragte Louise. Die Frau, die sie ihr daraufhin präsentierte, war eine Französin im Alter von einhundertzwanzig Jahren.
Bis zu ihrem einhundertsechzehnten Lebensjahr hatte sich Jeanne Louise Calment noch allein versorgt, und sie führte ihre bemerkenswerte Gesundheit auf den regelmäßigen Konsum von Schokolade, Olivenöl und Bordeaux zurück. Das Öl goss sie anscheinend über alles, was sie aß, und abends rieb sie sich damit das Gesicht ein.
Anna hatte den Verdacht, dass es nur eine Anekdote war, um Reporter und andere Plagegeister zufriedenzustellen, doch für Callie wurde es zum Evangelium. Sie kopierte den Bericht über Mme Calment und hängte ihn im Laden aus. Dann schrieb sie der alten Dame und bat um ein Autogramm, das sie eingerahmt im Pit Stop neben das importierte Olivenöl aus Europa stellte. Von da an drängte sie jeden Kunden, das Alter der Frau auf dem Foto zu schätzen. Die meisten nannten eine Zahl zwischen fünfundachtzig und achtundneunzig.
Für Callie war es der Beweis, dass Olivenöl der Schlüssel zur ewigen Jugend war, für Anna dafür, dass die meisten Menschen eben nicht genug Fantasie hatten, um sich vorzustellen, dass jemand älter als hundert Jahre alt werden konnte. Das behielt sie jedoch für sich. Den Hinweis, ihre Haut weise bedeutend weniger Falten auf als die der Französin, obwohl sie nie einen Tropfen Olivenöl gesehen habe, konnte sie sich dennoch nicht verkneifen.
»Dann solltest du endlich damit anfangen«, rief Callie eines Abends beim Essen. »In zwanzig Jahren können wir dein Bild daneben hängen und beweisen, dass Olivenöl wirklich Wunder wirkt.«
Sie hatten darüber gelacht, aber Erin, die ihr ganzes Leben lang von runzligen Frauen umgeben war, fing damals an, Oliven aus dem Kühlschrank zu klauen, um sich die Wangen damit einzureiben. Es gab einen Riesenkrach wegen des seltsamen Benehmens des Kindes. Anna und Bets hielten es für sinnlose Verschwendung, doch Callie, die bereits in puncto Weihnachtsmann und Zahnfee von den beiden überstimmt worden war, drohte mit Auszug. Obwohl sie Erin gemeinsam aufzogen, war Callie das Sorgerecht zugesprochen worden. Sollte sie wirklich den Entschluss fassen, auszuziehen, konnten Anna und Bets sie nicht daran hindern, Erin mitzunehmen.
»Die Kleine hat ja sonst nichts, woran sie glauben kann«, sagte Callie. »Was ist denn so schlimm daran, wenn sie an die Kraft der Oliven glaubt? Keine von euch weiß, ob die Früchte nicht doch etwas mit eurer erstaunlichen Gesundheit und Langlebigkeit zu tun haben. Ihr könnt es für unwahrscheinlich halten, aber Gegenbeweise habt ihr ja auch keine.«
Anna war enttäuscht, als Bets schließlich Callies Partei ergriff. »Dann lass sie eben daran glauben.«
Sie konnte ja verstehen, dass Callie eine andere Sicht auf die Welt hatte und fest auf die Zauberkräfte der Oliven vertraute. Aber zumindest Bets wusste es doch besser. Der Olivenhain machte unendlich viel Arbeit, schon Anna musste ihrem Vater zur Hand gehen, und auch Bets wurde nie geschont und von Kindesbeinen an für die Plackerei in den Feldern eingespannt. Zur Erntezeit bekamen die Kinder schulfrei, um mitzuhelfen, und sie schufteten wie die Knechte. Billige Arbeitskräfte kamen damals noch nicht aus Mexiko, sondern aus der eigenen Familie.
Wenn Anna an Oliven dachte, dachte sie an Blasen, Splitter und furchtbare Schmerzen in den Armen. Bei ihrer Erinnerung an die Bäume dachte sie an Schweiß. Bets hatte dieselbe Kindheit gehabt wie sie, und als die Männer im Krieg waren, mussten sie jahrelang allein zurechtkommen, um den Betrieb am Laufen zu halten. Am liebsten hätte sie Callie und Erin geschüttelt
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