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Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Miller Santo
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dieselbe Farbe wie meine Augen! Außer mir hat die keine von euch. Ich glaube, die habe ich von Daddy«, rief Erin.
    »Auch die Hände hast du von ihm«, erwiderte Anna. »Er hatte sehr schöne, schlanke Finger, die irgendwie aristokratisch wirkten. Deshalb wollten wir unbedingt, dass du Cello spielen lernst.« Sie sprachen sonst kaum über Erins Vater Carl.
    Das Mädchen schwieg lange, dann streichelte es vorsichtig über Annas hohe, ausgeprägte Wangenknochen. »Aber das habe ich von dir«, sagte sie, »vielleicht werde ich ja einmal steinalt, so wie du.«
    Anna musste lachen. »Wie alt glaubst du, bin ich denn?«
    Erin zuckte mit den Schultern. »So alt wie die Bäume hier?«
    »Du bist ein schlaues Mädchen. Weißt du, was das Besondere an Olivenbäumen ist? Sie sind wahre Überlebenskünstler.« Anna war sich nicht sicher, ob Erin in ihrem Alter schon wusste, was ein Überlebenskünstler war, doch die Kleine nickte eifrig. »Das heißt, wenn wir diesen Baum heute fällen, würden im Frühjahr trotzdem ganz viele Schösslinge herauswachsen.«
    Erin sah sie skeptisch an. »Gerade hast du gesagt, dass der Baum und du gleich alt sind. Woher willst du dann wissen, was passiert, wenn man ihn fällt?«
    »Die Schösslinge nennt man kleine Sauger.« Anna machte ein Geräusch, als ziehe sie mit einem Strohhalm Limonade hoch. »Die Kraft, die sie zum Wachsen brauchen, saugen sie aus den Wurzeln des gefällten Baums. Die Wurzeln sind das Wichtigste.«
    »Wo kommen die Sauger denn her?«, fragte Erin.
    Diese ernsthafte Frage erstaunte Anna. Sie hatte erwartet, dass das Kind lieber ein Märchen hören wollte über das Wunder eines getöteten Baums, der trotz allem weiterlebte. Sie reichte Erin die Hand, um ihr beim Heruntersteigen zu helfen. Dann zog sie die Handschuhe aus und scharrte im Boden. Obwohl es in Kidron selten Bodenfrost gab, klumpte die Erde zusammen, da der rote Sand einen hohen Lehmanteil enthielt. Gleich neben dem Stamm grub sie ein Loch, so tief wie zwei Fäuste, und legte merkwürdige Beulen unter der Wurzelrinde frei. »Sieh mal, das sind Wurzelknoten. Sie sind voller Nährstoffe und Kraft, da kommen die Sauger her, aus ihnen holen sie sich den Saft.«
    Erin streckte vorsichtig die Hand aus, um die Beulen zu berühren. »Als hätte jemand Oliven unter die Rinde gesteckt«, sagte sie.

8.
    Die sechste Generation
    N a ch dem Besuch des Doktors gestattete sich Anna ein Nickerchen. Erst die Stimmen der anderen, die beim Abendessen in der Küche saßen, weckten sie wieder. Es gab Olivenbrot und Schinken. Sie hatte kaum noch Appetit, aber immer noch eine feine Nase, die ihr verriet, dass an Bets der unangenehm süßliche Geruch aus Franks Altersheim haftete. Es erinnerte sie an vergammeltes Obst, doch die anderen meinten, es sei die ganz normale Mischung aus Schweiß und Desinfektionsmitteln. Anna verkniff sich eine Bemerkung und wandte sich demonstrativ von Bets ab.
    »Hör bloß auf damit«, rief Bets und gab ihr einen Klaps. »Sonst lass ich dich auch gleich einweisen.«
    »Ich bin bei klarem Verstand und immer noch anmutig«, entgegnete Anna feixend und bleckte ihre echten Zähne.
    »Aber sieh dich vor: Sollte eines dieser Merkmale dir abhandenkommen, bist du fällig.« Bets wandte sich wieder dem Essen zu.
    »Wisst ihr, warum es dort so übel riecht?«, fragte Anna und nahm neben ihrer Tochter Platz. »Es sind die Körperausdünstungen, die Leute riechen nach Fäulnis und Verfall, der modrige Geruch des Todes. Ich habe schon viele im Sterben liegen sehen, und in Franks Heim stinkt es gewaltig danach.«
    Callie legte ihr beschwichtigend eine Hand auf den Arm. »Hört jetzt bitte auf.«
    »Was erwartest du denn?«, fragte Bets. »Sie hat doch recht, jede Woche sterben dort ein paar Leutchen.«
    Erin kicherte. »Ach, wie hab ich euch alle vermisst! Niemand führt so herrlich unphilosophische Gespräche über den Tod wie ihr.«
    Für Anna war der Tod etwas sehr Reales. Als sie noch ein Mädchen war, war die Welt ein gefährlicher Ort. Männer starben auf dem Acker, Frauen im Wochenbett und Kinder kamen um, weil eine Schule brannte. Erin hingegen war noch nie auf einer Beerdigung gewesen. Von der Beisetzung ihres Vaters hatten die Frauen sie ferngehalten, und seitdem war niemand mehr gestorben, der ihr nahestand.
    »Der Tod gehört zum Leben, er ist Teil des natürlichen Kreislaufs. Das ist einfach so«, sagte Callie und wandte sich wieder an Bets: »Wie geht es Dad? Hat sich sein Zustand verschlechtert oder

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