Der Olivenhain
und gerufen, dass Oliven die Früchte mühsamer Arbeit waren. Doch die beiden hatten nie im Hain schuften müssen, und nur deshalb konnten sie an diesen Zauber glauben.
Als Callie zur Welt kam, wurde die Ernte bereits von Wanderarbeitern erledigt, die jeden Herbst durchs Sacramento Valley zogen. Den Kellers gehörte zwar das Land noch, aber mittlerweile verwaltete ein Nachbar den Hain und erhielt die Hälfte des Ertrags dafür. Für Callie war der Olivenhain ein großer Spielplatz, ein Ort, an dem man sich verstecken oder auf Bäume klettern oder stundenlang im Schatten sitzen konnte, um dem Wind in den Blättern zu lauschen. Frank hatte seine Kinder sehr verwöhnt, besonders Callie, die als Erstgeborene einen großen Altersunterschied zu ihren Brüdern hatte. Deb, Callies Tochter und Erins Mutter, verbrachte kaum Zeit im Hain. Sie wuchs im Pit Stop auf, den Callie und ihr Mann kurz nach Debs Geburt übernommen hatten. Ihre natürliche Umgebung bestand aus flimmernden Leuchtstoffröhren und Olivenprodukten in Dosen.
Auch Erin wäre in dem Laden aufgewachsen und hätte sicher ein ebenso distanziertes Verhältnis zu den Früchten entwickelt, wenn Deb nicht alles vermasselt hätte. Als Erin zu ihnen nach Hill House zog, war Callies Mann gerade gestorben. Sie arbeitete achtzig Stunden und mehr in der Woche, um über die Runden zu kommen. Letztendlich wurde Erin von Anna und Bets aufgezogen, die mit dem Kleinkind ziemlich überfordert waren. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlten sich beide richtig alt. Damit Erin kein Durcheinander in ihren ordentlich geführten Haushalt brachte, nahm Anna sie immer mit nach draußen. Bevor Erin in die Schule kam, wanderten sie jeden Tag durch den Hain, und Anna zeigte ihr, wie man auf Bäume kletterte und bei der Ernte die Olivenzweige ordentlich abstreifte.
Anna stellte damals fest, dass ihre Tochter eine überraschend gute Geschichtenerzählerin war. Gebannt hörten sie und das Kind stundenlang zu, wenn Bets Märchen und klassische Sagen erzählte. Nach einem anstrengenden Tag mit einem quirligen Kleinkind war das wohltuend. Erin mochte am liebsten die Sage von Athene, die ihren Bruder austrickste, indem sie den Olivenbaum schuf, der viel nützlicher war als eine salzige Quelle. Erin hatte graue Augen wie die Göttin. Der Überlieferung nach waren die Blätter des Olivenbaums ein Abbild der Augen Athenes – zwar grün auf der oberen, aber silbriggrau auf der unteren Seite.
Am Tag, nachdem Anna Erin dabei ertappt hatte, wie sie ihr Gesicht mit Oliven einrieb, nahm sie sie mit in den Hain und brachte ihr alles über die Bäume bei. Die Natur hielt ohnehin mehr Wunder bereit als alle Märchen der Welt, fand Anna. Es war ein Februartag, und es war endlich wieder kalt geworden, sodass die Bäume sicher erst in ein paar Wochen knospen würden. Sie hatten sich warm eingepackt, und Erins grüner Schal verhakte sich ständig in den niedrigen Zweigen. Anna wollte ihr die Bäume zeigen, die ihr Vater damals angelegt hatte, als sie neu nach Kidron gekommen waren.
Mit ihren dicken, knorrigen Ästen und den langen, sich zum Ende hin verjüngenden Blättern, die aussahen wie die Flugfedern eines Falken, waren sie leicht zu erkennen. Sie hatten mehr Holz als Blattwerk, was bedeutete, dass sie weniger Olivenfrüchte trugen als in jungen Jahren, doch Anna wusste aus Erfahrung, dass die wenigen Früchte viel mehr Öl lieferten als die anderen.
Von den damals einhundert Bäumen, die ihr Vater gepflanzt hatte, waren kaum mehr als zwei Dutzend übrig, denn viele waren im Lauf der Jahre erfroren oder an Krankheiten und Parasiten eingegangen. Diese Bäume waren Annas Bäume, um die sie sich persönlich kümmerte, das wussten auch die Vorarbeiter und ließen – außer zur Erntezeit – die Finger davon. Von diesen Bäumen wurden auch Stecklinge gezogen, die auf schwächere, junge Bäume gepfropft wurden, wenn sie nicht richtig gedeihen wollten.
Im Frühling wollte sie ihr zeigen, wie aus einem kaum bleistiftgroßen Zweig ein ganzer Baum erwuchs, doch an diesem Tag im Winter sollte sich Erin in einen Baum setzen und der Geschichte lauschen, wie die Wurzelstöcke einst von Spanien über Australien nach Kidron gelangt waren. Anna half ihr beim Hochklettern, lehnte sich dann gegen den Stamm, und die Blätter umgaben sie wie ein Umhang. Unter dem grünen Dach war es viel wärmer, beim Sprechen bildete der Atem keine Wölkchen mehr.
Anna zeigte ihr zuerst die Unterseite eines Blattes. »Sieh doch, es hat
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