Der Olivenhain
geht es ihm besser?«
»Er hat einen neuen Freund«, antwortete Bets und berichtete von einem Mann Ende fünfzig, der in einem speziellen Sport-Rollstuhl durchs Heim flitzte. Anna fiel auf, dass Erin schon wieder Fleisch aß, während sie ihrer Urgroßmutter aufmerksam zuhörte. Ab und zu strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Anna suchte Blickkontakt mit Callie und deutete mit einer Kopfbewegung auf Erin.
»Später«, artikulierte Callie stumm und stand auf, um den Tisch abzuräumen.
»Also, wer will mit, wenn ich Mum besuche?«, fragte Erin schnell, wobei sich ihre Stimme fast überschlug. Anna wusste, dass sie mit dieser Frage so lange gewartet hatte, bis Callie kurz aus dem Zimmer war. Während der zwanzig Jahre, die Deb nun schon in Chowchilla einsaß, hatte Callie ihre Tochter nicht ein einziges Mal besucht.
»Wir beide kommen mit«, antwortete Bets.
»Aber nicht sofort«, wandte Anna ein. »Du bist gerade erst angekommen, wir müssen noch einiges besprechen. Lieber nächste Woche.«
Erin sah auf den Fußboden. »Ich bin schon wieder müde, wahrscheinlich holt mich die Zeitverschiebung nun ein.«
Gemeinsam brachten sie Erin in ihr Zimmer. Callie ließ die Jalousien herunter und zog den schweren Brokatvorhang zu.
»Sie muss sich jetzt erst einmal richtig ausschlafen«, sagte Bets, nachdem sie die Tür vorsichtig hinter sich zugezogen hatten. Anna wollte endlich mit ihnen über Erins unangekündigten Besuch und ihr merkwürdiges Verhalten sprechen, doch die beiden anderen verschwanden wortlos in ihren Zimmern und erschienen erst Stunden später wieder, als Anna gerade Milch auf dem Herd erwärmte.
Anna war klar, dass die beiden die Neuigkeiten aus Chowchilla erst verdauen mussten. Keine von ihnen hatte von Debs erneutem Antrag gewusst. Wie sie beim letzten Mal gelernt hatten, musste der Bewährungsausschuss des Staates Kalifornien nur die Opfer und ihre Angehörigen über eine anstehende Anhörung informieren. Erin war sowohl Angehörige des Opfers als auch der Täterin.
»Sie schläft wie ein Murmeltier, der Jetlag verschafft uns nun die Gelegenheit, uns ausgiebig Gedanken zu machen«, sagte Bets. Sie öffnete einen Beutel löslichen Kakaos und schüttete den Inhalt in ihren Milchbecher.
Callie rührte nach jedem Schluck einen weiteren Löffel Kakaopulver in ihre Tasse. »Bei der Inventur im Laden war sie keine große Hilfe, hinterher musste ich alles noch einmal selbst nachzählen.«
»Hat sie dir denn gar nichts erzählt?«, fragte Bets. »Und du«, erkundigte sie sich bei Anna, »hast du herausgefunden, wann die Anhörung stattfindet?«
Nachdem der Doktor gegangen war, hatte Anna in Chowchilla angerufen. »In knapp zwei Monaten. Der Gefängnisleiter war überrascht, dass wir bereits informiert waren. Die Angehörigen der Verurteilten erfahren erst kurz vor der Anhörung von dem Antrag. Wahrscheinlich, um die Hoffnungen nicht zu hoch zu schrauben.«
»Beim letzten Mal war die Anhörung eine bloße Formsache«, sagte Bets.
Anna beobachtete, wie Callie zwei weitere Löffel Kakao in die Milch rührte. »Ich glaube, es geht gar nicht um diese Anhörung«, sagte Callie. »Hat eine von euch schon mal bei der Oper in Italien angerufen? Ich fürchte, sie ist vertragsbrüchig geworden, denn sie hatte sich dort für drei Jahre verpflichtet.«
Bets schüttelte den Kopf. »Ich komme dauernd mit den Uhrzeiten durcheinander, außerdem glaube ich kaum, dass sie nach Amerika zurückrufen. Vermutlich haben sie nicht einmal richtig verstanden, was ich von ihnen wollte.«
»Also weiß im Augenblick niemand etwas Genaues? Was hat sie in Italien gemacht, wenn sie nicht gesungen hat? Wer waren ihre Freunde? Gab es da nicht ein Mädchen aus Boston, das zur selben Zeit unter Vertrag genommen wurde?« Die Geschwindigkeit, mit der Anna die Fragen herausschoss, machte ihre leise Verzweiflung deutlich. Ihre Gewissensbisse darüber, dass sie nichts über Erins Leben wusste, entluden sich in Schuldzuweisungen. In Erins Briefen hatte nur oberflächliches Geplänkel gestanden, das Anna so hingenommen hatte, weil sie unbedingt an dem Glauben festhalten wollte, mit Erin alles richtig gemacht zu haben. Ihre Schuld Deb gegenüber sollte durch die vorbildliche Erziehung ihrer Tochter beglichen werden.
Callie brach weinend unter der Last der Gewissensbisse zusammen. Sie bereute es bitter, dass sie Deb im Stich gelassen und nichts hatte tun können, um sie vor ihrem Schicksal zu bewahren. Die Scham darüber bestimmte
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