Der Olivenhain
dem Gedanken daran, Mutter zu werden. Erin zog an der Kordel der Stehlampe, und dabei fielen ihre langen Haare, die sie während des Gesprächs mit einer Hand zu einem Zopf gezwirbelt hatte, über ihre Schultern.
Callie kam über einen Umweg zurück auf das Thema Anhörung. »Du wirkst sehr viel jünger mit einem Zopf.«
»Ich muss mal«, sagte Erin und verließ das Wohnzimmer. Es war erstaunlich, wie gut Callie sie kannte.
Vor dem Spiegel im Bad flocht sich Erin zuerst einen dicken Zopf, dann drehte sie es zu zwei niedrigen Schnecken. Sie verzog den Mund in verschiedene Richtungen und probierte unterschiedliche Blicke und Gesichtsausdrücke aus. Ihr Auftritt morgen musste überzeugend wirken. Deswegen wollte sie die Schutzlose mimen, das Kind, das seine Mama braucht.
Mit dem Pony sah sie tatsächlich viel jünger als vierundzwanzig aus. Durch die Schwangerschaft war ihr Gesicht fülliger geworden, ihre kantigen Züge wirkten weicher. Die dichten schwarzen Fransen über ihren Brauen warfen einen Schatten auf ihre eigentlich hellgrauen Augen und ließ sie dunkler und, wie Erin fand, bedürftiger erscheinen.
Während sie die Haare aus dem Waschbecken wischte, übte sie die einstudierte Rede noch einmal. Sie sollte natürlich und unangestrengt klingen. Erin traute sich nicht zu, einfach frei von der Leber weg, »aus dem Herzen heraus« zu sprechen, wie Debs Anwalt ihr geraten hatte. Als sie tief versunken in einem Ledersessel in seinem Büro gesessen und die Leberflecke in seinem Gesicht betrachtet hatte, war ihr klargeworden, dass sie trotz der fünfzig Jahre Altersunterschied etwas wusste, was ihm nicht klar war: Das Herz konnte genauso treulos sein wie die Liebe.
2.
Chowchilla
S c hwangere und alte Menschen haben eine schwache Blase. Das merkte Erin auf der vierstündigen Fahrt nach Chowchilla. Sie erinnerte sich daran, wie nervig sie es als Teenager fand, dauernd anhalten zu müssen. Doch nun hieb das Baby gegen ihre Blase wie gegen einen Boxsack, und sie war dankbar für jede Raststätte auf dem Weg. Weder Anna noch Bets waren besonders gesprächig, deshalb stellte Erin die einsilbige Unterhaltung nach der dritten Pinkelpause ein. Sie kaute Kaugummi, um ihr Mundwerk trotzdem zu beschäftigen, und lenkte sich während der monotonen Fahrt ab, indem sie einen guten Popsender nach dem anderen aufspürte.
Noch hatte sie sich nicht an die Sonderbehandlung gewöhnt, die Schwangeren zuteilwurde. Als sie sich den Toren der Frauenvollzugsanstalt Kaliforniens näherten, bereitete sie sich innerlich schon auf die abschätzigen, eisigen Blicke der Wachleute vor. Die Feindseligkeit, mit der man ihr dort stets begegnete, als führe sie Schreckliches im Schilde, hatte sie als Teenager verrückt gemacht. Doch als sie an diesem Morgen ihre Vorladung vorzeigte, nickte ihr der Wachmann aufmunternd zu, als wollte er sagen: Sie machen das schon richtig. Diese unerwartet freundliche Begrüßung ließ den kalten Januarmorgen gleich etwas wärmer erscheinen.
Am Empfang wurden sie einem übergewichtigen Beamten zugewiesen, der wahrscheinlich früher einmal Leistungssportler gewesen war. Sie folgten dem Schrank von einem Mann in den noch menschenleeren Verhandlungsraum und nahmen in der vorderen Reihe Platz. Die Luft roch abgestanden und säuerlich. Wie in den schmutzigen Gassen von Rom, dachte Erin.
Die Sitze waren mit kratzigem, blauem Sackleinen überzogen, das an der bloßen Haut scheuerte. Anna richtete sich mehrmals neu auf ihrem Stuhl aus, dann legte sie den gelben Schal, den sie bei der Abfahrt sorgfältig um den Hals gewickelt hatte, auf der Rücklehne des Stuhls ab. In ihrem Alter war sie beweglicher als manch andere, die nur halb so alt waren wie sie. Auch ihre Stimme war immer noch fest: »Ich hatte mir die Kulisse eher wie in einem Perry-Mason-Roman vorgestellt, nicht wie …« Sie suchte nach einem passenden Vergleich.
»… in einer Kfz-Zulassungsstelle?«, half Erin nach.
»Wie dem auch sei, hier wird uns gleich großes Theater geboten«, sagte Bets und verzog den Mund. »Du hättest beim letzten Mal dabei sein sollen. Der Staatsanwalt, die Ausschussmitglieder, Deb – alle spielten ihre Rolle. Der eine gab den Ankläger, der andere den Richter, die Dritte bekam die Rolle der Bittstellerin. Es ist alles eine Farce.«
Anna tätschelte Erins Knie. »Bis auf unsere reizende Enkeltochter. Sie ist sicher nicht im Drehbuch vorgesehen.«
Es gibt kein Drehbuch, dachte Erin. Einen Augenblick lang sehnte sie sich zurück
Weitere Kostenlose Bücher