Der Olivenhain
heute hinfahren, morgen ist ja keine Zeit dazu.«
Callie sah nicht auf von ihrem Strickzeug. »Im Laden war heute Nachmittag nichts los. Es wird früh dunkel, und die Leute bleiben lieber zu Hause. Merkwürdig, dass Bets so spät noch zu Frank wollte, sie fährt doch sonst nicht mehr gern in der Dämmerung.«
In all den Jahren, die Deb schon in Chowchilla einsaß, hatte Callie ihre Tochter weder besucht noch je einen Brief an sie geschrieben oder auch nur Grüße ausrichten lassen. Erin überlegte, sie wieder einmal zu fragen, ob sie mitkam. Sie dachte daran, wie sie sie all die Jahre auf unterschiedlichste Art und Weise gefragt hatte. Einmal hatte sie gehört, dass Bets Callie warnte: Gott gibt keine zweiten Chancen. Auch Müttern nicht. Das Baby schlug Purzelbäume, und Erin musste sich im Sessel aufrichten, um ihren Rücken auszustrecken. Dass Callie die eigene Tochter einfach aus ihrem Leben streichen konnte, das war ihr unbegreiflich.
»Willst du mal fühlen? Das Baby macht gerade einen Salto«, sagte Erin und griff nach der Hand ihrer Großmutter. Callie zählte die letzten Maschen und legte dann den winzigen, pinkfarbenen Babyschuh beiseite, an dem sie gerade strickte. Schweigend saßen sie eine Weile da, Callies Hand auf Erins Bauch, der leicht bebte, als das Baby erneut die Lage wechselte.
»Wie weit bist du denn nun?«
»Ich bin im fünften Monat.«
»Was ist mit dem Vater? Hast du endlich mit ihm gesprochen?«
Erin lief rot an. »Nur kurz. Ich bin noch nicht so weit.«
»Sie machen sich große Sorgen, auch wenn sie es nicht sagen, das ist dir hoffentlich klar? Anna und Bets können nicht begreifen, wie du dich in diese Lage bringen konntest.«
»Ich gehe davon aus, dass ihr sehr genau wisst, wie man in eine solche Lage gerät.« Von Kindesbeinen an hatte Erin von den Großmüttern gelernt, dass Angriff die beste Verteidigung war.
Callie knickte ein. »Ja, natürlich, jede von uns. Du bist weggegangen und erwachsen geworden.«
Erin war sich nicht sicher, ob Callie plötzlich so kleinlaut war, weil sie ihr zum ersten Mal wie eine Erwachsene gegenübertrat oder weil sich Callie an ihre eigene Tochter erinnerte, die ebenfalls sehr früh schwanger geworden war. Plötzlich überkam Erin eine Ahnung, dass ihre Großmutter eine tiefe Trauer in ihrem Herzen trug, deren Grund sie nie erfahren würde. »Letzte Woche war ich beim Ultraschall«, sagte Erin, um einen friedlichen Abschluss zu finden.
»Konnte das Geschlecht des Kindes endlich bestimmt werden? Wir wüssten es gern wegen der Anzeige. Ich glaube ja fest, dass es ein Mädchen wird, aber ich hätte doch lieber Gewissheit.«
Callies Drängen ließ Erin kalt. Die Großmütter wollten unbedingt ihre Ahnungen durch die moderne Medizin bestätigt sehen. Doch Erin fand die Vorstellung absurd, sich auf einem OP-Tisch von einer technischen Assistentin mit einem Metallstab in ihren Eingeweiden herumstochern zu lassen. Erins Widerwille war den Großmüttern wiederum unbegreiflich. »Wozu soll das noch gut sein? Anna, Bets und du seid doch überzeugt, dass es ein Mädchen wird. Anscheinend liegt das ja in unseren Genen. Seit Wochen strickst und nähst du nur rosafarbenes Zeug. Wer könnte dagegen noch Einspruch erheben? Nicht einmal der liebe Gott würde das wagen.«
Callie zog ihr Pillenröhrchen aus der Hosentasche und schluckte eine Tablette. Dann streckte sie ihr krankes Bein aus, lehnte sich zurück in den Sessel und sagte: »Ich kann morgen leider nicht mitkommen. Im Augenblick herrscht Hochbetrieb, stündlich kommen neue Busse mit Touristen aus dem Casino. Außerdem habe ich ein paar Pflücker angeheuert, die sich um die restlichen Oliven kümmern, und ich …«
»Eben hast du gesagt, es war nichts los im Laden.«
»Heute war nicht viel los. Morgen sieht es wieder anders aus.«
»Der Laden läuft dir nicht davon, aber …« Callies panischer Blick ließ sie mitten im Satz verstummen. »…schon in Ordnung. Kein Problem.« Es war und blieb zwar trotzdem eines, aber Erin wusste, wann sie aufhören musste.
Callie rieb sich das Bein. »Hast du das Neueste von dem Enkel der Lindseys gehört?«
Erin schüttelte den Kopf und sah aus dem Fenster. Die Sonne ging langsam hinter den Bergen unter, die Kidron vom Pazifik trennten. Sie plauderten unverfänglich über Babys und Strickmuster, bis es im Raum stockdunkel geworden war. Es war schön, zusammenzusitzen und ebenbürtig miteinander zu reden, und einen Moment lang spürte sie einen Funken Hoffnung bei
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