Der Olivenhain
und Callie aus dem Weg gingen und in separaten Flügeln in Hill House lebten.
Die Funkstille zwischen der Großmutter und der Urgroßmutter war Erin erst aufgefallen, als sie älter wurde, doch den Grund dafür erfuhr sie nie. Nur manchmal hatte sie gehört, wie Anna mit beiden schimpfte und sie tadelte, weil sie zu hohe Erwartungen hätten.
Als Erin ihre Mutter dann endlich besuchen durfte, überraschte sie das innige Verhältnis zwischen Deb und Bets sehr. Sie schienen etwas eingerostet, und die Gespräche gerieten manchmal auch ins Stocken, aber trotzdem wirkten Bets und Deb wie Mutter und Tochter. Oft spürte Erin einen eifersüchtigen Stich im Herzen und wünschte sich nichts sehnlicher, als älter zu sein, damit auch sie wie eine Erwachsene mit ihrer Mutter sprechen konnte.
3.
Das Gefängnislied
B e i ihrem ersten Besuch im Gefängnis war Erin vierzehn Jahre alt. Debs Verurteilung lag damals über zehn Jahre zurück. Insgeheim fürchtete sich Erin vor dem Moment der Begegnung mit ihrer Mutter, doch das behielt sie lieber für sich. Der Sommer war ungewöhnlich heiß gewesen, und alle waren launisch und reizbar, vor allem Bets und Callie zankten sich ständig.
Deshalb war Erin überrascht, als Callie frühmorgens vor der Abfahrt in der Küche Kekse und Trockenfrüchte für die Fahrt einpackte. Die Großmutter nahm sie zum Abschied fest in die Arme, und Erin hatte den Eindruck, als wolle sie ihr sagen, »Bitte geh nicht«. Es war das Jahr, in dem der Anschlag auf die Olympischen Sommerspiele in Atlanta verübt wurde. Erin erinnerte sich daran, dass alle sagten, es hätte schlimmer kommen können. Ein ähnliches Gefühl hatte sie nach dem ersten Besuch bei ihrer Mutter im Frau engefängnis.
Chowchilla lag im Nirgendwo des zentralkalifornischen Hochlandes, umgeben von riesigen Feldern mit Mandel- und Pistazienbäumen, die kaum mannshoch waren und deren wachsartige Blätter kleine grüne Schirmdächer bildeten. Die Anordnung der Bäume erinnerte Erin an Annas Olivenhain. Aus den Augenwinkeln sah sie die langen Baumreihen vorüberziehen, dann verließen sie die Autobahn, bogen einige Male ab und hielten schließlich an. Erin sah sich neugierig um und bemerkte eine lange Reihe von Fahrzeugen auf einer Straße, die wie ein Wirtschaftsweg aussah. Sie kniff die Augen zusammen und sah in der Ferne funkelnden Stacheldraht und dahinter mehrere sandsteinfarbene, blockartige Gebäude in der Hitze flimmern. Bets stellte den Motor ab.
»Wir sind früh dran, vor acht Uhr morgens lassen sie keine Besucher hinein.« Bets beugte sich zum Handschuhfach hinüber, um die Besuchserlaubnis herauszuholen.
»Das sind aber viele Autos«, staunte Erin.
»Es sind auch viele Gefangene«, erwiderte Bets.
»Weiß sie, dass ich komme?«
»Ich habe es ihr letzte Woche geschrieben.«
»Wie soll ich sie denn nennen?«
»Diese Frage kann ich dir nicht beantworten.«
Wenn Erin über ihre Mutter sprach, nannte sie sie Deb. Das hatte sie von den Großmüttern so übernommen; es ließ ihr den nötigen Abstand, um mit der schwierigen Situation klarzukommen. Doch auf einmal war sie unsicher, ob sie ihre Mutter einfach beim Vornamen nennen durfte, wenn sie ihr gegenüberstand.
Bets holte ein Reader’s-Digest-Heft aus der Tasche und begann zu lesen, während Erin das einzige Foto, das sie zusammen mit ihren Eltern zeigte, aus ihrem Notizbuch zog. Erin fand, ihre Mutter sah darauf aus wie die junge Liz Taylor, nur molliger. Ihr Vater wirkte untersetzt mit einem kräftigen Hals und stark hervortretendem Adamsapfel. Er saß pausbäckig vor der Kamera, und sein Blick war in die Ferne auf etwas außerhalb des Bildes gerichtet. Erins feiste kleine Hand lag auf seiner Wange, als wollte sie ihn dazu bringen, sie anzusehen. Sie hatte keinerlei Erinnerung an den Moment, als diese Aufnahme gemacht wurde, doch ihre Großmutter Callie sagte, das Foto sei im Sommer »bevor das alles passiert ist« aufgenommen worden.
Es war fast halb zehn, als Erin und Bets endlich in den Wartebereich vorgelassen wurden. An der Schleuse mussten alle mitgeführten Gegenstände bis auf die Autoschlüssel und eine kleine durchsichtige Plastiktüte mit ein paar Dollarscheinen abgegeben werden. Ihre Urgroßmutter dirigierte sie durch die Einlassprozeduren wie jemand, der die Regeln zwar befolgte, aber nicht billigte. »Das wird ja immer schlimmer«, murrte sie leise, als eine Vollzugsangestellte sie sorgfältig an den Beinen abtastete und schließlich noch in ihrem
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