Der Olivenhain
nahm er seinen verwelkten Strauß Nelken und verschwand.
Sie dachte, sie hätte sich innerlich befreit von der Ehrlichkeit, die ihr die Großmütter eingeimpft hatten. Bis sie vor fünf Monaten in Rom der Ernst des Lebens wieder einholte, nachdem ein weiterer Schwangerschaftstest positiv ausgefallen war. Nun war sie diejenige, die beim Sex weinte. Ihr Liebhaber trocknete ihre Tränen und versprach, sich um sie und das Baby zu kümmern, doch in seinen Augen spiegelte sich nur ihre eigene Verzweiflung. Dieser Blick und der zwei Tage später eintreffende Brief des Bewährungsausschusses veranlassten sie, Rom zu verlassen.
Sie hätte ihm sagen müssen, dass sie nach Kalifornien zurückging, doch sie wollte um keinen Preis noch einmal vor ihm weinen, schon gar nicht bei Tageslicht. Außerdem war sie sauer auf ihn, weil er ans Essen denken konnte, während sie ihm erzählte, dass ihre Periode ausgeblieben war.
»Aber ich bin vielleicht schwanger!«, hatte sie gerufen, während der Drogeriebesitzer mit einem nassen Lappen um ihre Füße herumwischte.
Ihr Freund zog sie eilig von dem Regal mit den Schwangerschaftstests weg. »Ja sicher, schon möglich.«
»Ich habe keinen Hunger«, sagte sie und wollte ihn zwingen, seine Schritte zu verlangsamen.
»Aber auch du musst etwas essen, und der ›Schwan‹ hat eine hervorragende Küche.«
Während des ganzen Abends verloren sie kein Wort mehr über ihre Schwangerschaft. Zwar legte sie den noch ungeöffneten Test demonstrativ auf den Tisch, doch er überging ihn und redete den ganzen Abend über seine Probleme mit dem Orchester. Er wollte wissen, wie sie eine ebenfalls aus den USA stammende Altistin fand, dann sprachen sie über den nächsten Auftritt, und schließlich willigte sie trotz ihrer Enttäuschung ein, übers Wochenende mit ihm nach Mailand zu fahren.
Am nächsten Morgen fragte sie sich auf dem Weg zum Flughafen im Taxi, ob seine Gleichgültigkeit damit zu tun hatte, dass seine Ehe kinderlos geblieben war. Im Taxi klebte das Foto einer Frau mit einem kleinen Mädchen am Armaturenbrett. »Sie ist reizend«, sagte Erin beim Bezahlen, und sogleich ergriff der Taxifahrer ihre Hand, die er nicht mehr loslassen wollte, während er redselig von Mutter, Frau und Tochter berichtete, die er »die Frauen meines Herzens« nannte.
Erin nahm ihren Koffer und dachte darüber nach, was er gesagt hatte. In der Anonymität des überfüllten Flughafens legte sie die Hand auf ihren Bauch, und zum ersten Mal in ihrem Leben sehnte sie sich nicht mehr nach ihrer Mutter, sondern versuchte sich vorzustellen, was sie selbst wohl für eine Mutter sein würde.
In den Monaten nach ihrer Rückkehr fragte sie sich das öfter. Am Tag vor Debs Anhörung holte sie Callies Nähschere aus dem Nähkasten und schnitt sich einen Pony. »Mir war nach einer Veränderung zumute«, erklärte sie ihrer Großmutter, als diese sie beim Zurücklegen der Schere erwischte. Erins Stimme klang piepsig, wie damals als Kind, wenn sie etwas genommen hatte, was nicht ihr gehörte. Callie fasste Erin am Kinn, um sie anzusehen. Geblendet vom einfallenden Licht der Wintersonne schloss Erin die Augen.
»Du hast mir noch nie mit Pony gefallen. Weißt du noch, wie dir Bets sechs Dollar für den Frisör in die Hand gedrückt hat und du hinterher heulend heimkamst? Du sagtest, du hättest nicht gewusst, dass die Haare dann endgültig weg sind, wenn du dir einen Pony schneiden lässt.«
Erin löste sich aus dem Griff ihrer Großmutter und ließ sich in Annas Sessel sinken. »Ich war damals acht Jahre alt und dachte, ein Pony macht mich zur Prinzessin.«
»Wie eine Achtjährige siehst du jetzt auch aus.« Callie holte ihr Strickzeug aus dem Korb. »Aber beim nächsten Mal nimmst du bitte die Küchenschere, sonst werden die Klingen stumpf.«
Erins Stirn juckte. »In Ordnung.«
»Hast du die Haare im Bad weggeputzt? Die feinen Härchen fliegen sonst überall in der Gegend herum.«
»Mach ich später. Ich muss mich jetzt erst einmal ausruhen.« Sie lauschte auf die klappernden Stricknadeln.
Sie wusste, Callie erwartete, dass sie gleich aufsprang, um die Haare im Becken zu entfernen, doch Erin machte keinerlei Anstalten. Seit sie selbst ein Kind erwartete, fühlte sie sich nicht mehr verpflichtet, jeder Anordnung unmittelbar Folge zu leisten. Stattdessen versuchte sie, das Gespräch auf die Anhörung am nächsten Tag zu lenken. »Du bist früh zurückgekommen. Bets und Anna sind noch im Altersheim, sie wollten unbedingt
Weitere Kostenlose Bücher