Der Olivenhain
zurechtwies, weil er auf einen Tisch geklettert war. Sie trug eine verschrumpelte Jeans, und ihr krauses Haar war geglättet, aber nicht in Form gebracht worden. Wahrscheinlich war sie ein Perückentyp, wenn sie draußen war, und besaß eine für jeden Wochentag und drei verschiedene für sonntags. Erin machte sich darauf gefasst, dass der Junge nun eine Standpauke kriegen würde, doch weit gefehlt. Die Frau legte ihm den Arm um die Schulter, beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte ihm leise etwas ins Ohr.
Wenn Erin früher etwas angestellt hatte, wurde sie angebrüllt. Callie keifte immer am lautesten und verpasste ihr meist noch eine Ohrfeige dazu. Die Großmütter waren eben aus einer anderen Generation.
Bets sah auf die Uhr und packte aus, was sie im Gefängnisladen gekauft hatten: labberige Sandwichs, Chips und Limonade. Erin wusste, dass sie keine Antwort auf ihre Frage bekommen würde. Ihr Wunsch, zu verstehen, wurde von den beiden einfach ignoriert. Sie erfuhr erst viel später, nachdem sie die Zeitungsartikel und Gerichtsunterlagen gelesen und mit der Therapeutin ihrer Mutter gesprochen hatte, dass Deb den Grund, warum sie Carl erschossen hatte, nicht in Worte fassen konnte, selbst wenn sie ihn gekannt hätte. Doch damals, bei ihrem ersten Besuch in Chowchilla, hatte Erin den Eindruck, die beiden Erwachsenen hätten sich gegen sie verschworen, um sie aus der Welt der Erwachsenen auszuschließen.
Erins Thunfischsandwich fiel schon auseinander, weil es ganz durchgeweicht war. Die Gefängnisfotografin kam an ihren Tisch, und die drei Frauen rückten zusammen und umarmten sich. Dann hob die Fotografin den Daumen in die Höhe und forderte sie auf, laut »Bewährung« zu rufen, während sie auf den Auslöser drückte. Im Lauf der Jahre kamen so etliche Bilder zusammen, die Erin zu Hause in den Rahmen ihres Spiegels steckte. Auf allen Fotos reichte ihr Lächeln nicht über die Mundwinkel hinaus.
Bets kam erneut auf Erins Gesangskünste zu sprechen. »Hast du sie schon einmal singen gehört?«, fragte sie Deb.
Erins Mutter schüttelte den Kopf. »Als sie klein war, aber da trällerte sie meist das Alphabet oder sang ein Lied über die Räder am Schulbus.«
»Dieses Jahr ist sie Dritte beim Landeswettbewerb der Mezzosopranstimmen geworden.«
»Ja, ich weiß«, nickte Deb.
Erin hatte ihr das geflochtene Siegerband geschickt. Sie wusste nicht, ob es die Mutter behalten durfte, doch als sie Com’è bello! gesungen hatte, hatte sie die ganze Zeit an ihre Eltern gedacht. Überhaupt betrachtete sie ihre dramatische Familiengeschichte als große Oper. So ergab das Ganze wenigstens einen Sinn. In der Renaissance zuzeiten von Lucrezia Borgia waren Mord und Totschlag, Verrat, Betrug und uneheliche Bastarde an der Tagesordnung gewesen, ein Gattenmord war da eher eine Lappalie. Sie wusste nicht, ob ihre Mutter sich mit Opern auskannte.
»Kennst du die Arie?«
Deb schüttelte den Kopf, und die kleinen Zöpfchen flogen durch die Luft, was der Geste großen Nachdruck verlieh.
Bets sprang ein, als Deb krampfhaft nach einer Rechtfertigung suchte. »Wir haben auch nie Opern gehört, bis du angefangen hast, uns Arien vorzusingen. Anna hat nichts am Hut mit klassischer Musik, sie mag Volkslieder, und als ich jung war, war Jazz angesagt.«
»Singst du mir die Arie vor?«, bat Deb leise.
Erin hätte die Frage nun ihrerseits übergehen können, doch sie wollte sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen, um zu beweisen, dass sie anders als die anderen Frauen des Keller-Clans war. Und auch anders als ihre Mutter. Sie stand auf.
Sie erinnerte sich daran, was ihr Lehrer ihr über Lucrezia erzählt hatte. Sie versetzte sich in die Gefühlswelt einer Frau, die für ihr Kind singt, dem sie nie in ihrem Leben begegnet ist. Dann öffnete Erin die Lippen und fing an, Com’è bello! zu singen – mit einer Ausdruckskraft und Fülle wie nie zuvor.
Als sie geendet hatte, klatschten ein paar Leute, andere lachten verunsichert, weil sie nicht wussten, was sie von dem schmächtigen Mädchen mit den pechschwarzen Haaren und der wohltönenden vollen Stimme einer reifen Frau halten sollten.
Deb wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und fragte: »Was bedeutet das?«
Bets übersetzte die Anfangszeile: »Welch Zauber in jenem ehrlichen und erhabenen Gesicht!«
»Es ist wunderschön, ich wäre gern dabei gewesen.« Deb streckte die Hand nach ihrer Tochter aus, doch dann hielt sie inne und strich Erin nur zärtlich eine Haarsträhne
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