Der Olivenhain
Büstenhalter nachsah.
Zusammen mit den anderen Besuchern warteten sie danach in einem länglichen Raum mit schmalen Fensterschlitzen unter der Decke. Einige Kinder tobten herum, ihr Geschrei wurde von den nackten Betonwänden zurückgeworfen. Sobald sich ihr eine lärmende Göre näherte, gefror Bets’ Miene, und Erin wurde mit einem Mal klar, dass ihre Urgroßmutter sie selbst nicht mehr als Kind betrachtete.
Auf einmal stieg Wut in ihr auf, weil sie nie eines dieser frechen Kinder sein durfte, die hier auf ihre Mutter warteten. So ungebärdig sie sich auch benahmen, wussten sie doch wenigstens genau, was ihnen bevorstand, die Situation war ihnen vertraut – und damit waren sie der älteren Erin um Jahre voraus. Im Grunde war sie das Kind unter ihnen.
Als sie aufgerufen wurden, schob Bets sie zu der schweren Stahltür, die zum Hof hinausführte. Eine Bedienstete, die in Callies Alter sein mochte, hielt die Tür mit dem Schlagstock auf und ermahnte sie, dass Umarmungen nur zur Begrüßung und beim Abschied gestattet waren. Als sie hinaustraten, wurde Erin vom gleißenden Licht der Vormittagssonne geblendet, die sich in dem messerscharfen Stacheldraht reflektierte, der sich wie ein Geschenkband um die Spitze des Metallzauns wand. Sie musste die tränenden Augen zusammenkneifen, und als sie sie wieder öffnete, stand Deb vor ihr.
Sie sah überhaupt nicht aus wie auf dem Foto, sondern wirkte eingefallen und aschfahl in ihrem viel zu großen Overall aus Baumwolldrillich. Sie hatte unzählige kleine Zöpfchen in ihr Haar geflochten. Es hatte zwar immer noch die dunkle Farbe einer reifen Olive, aber es hatte den Glanz verloren, den Erin von alten Fotos kannte.
»Deine Mutter lässt dich grüßen«, sagte Bets und beugte sich zu einer kurzen Umarmung zu Deb hinüber. Erin fragte sich im Stillen, warum Bets log.
»Wie geht es ihr?«, fragte Deb.
»Ihr geht’s gut. Sie muss heute arbeiten.«
Sie arbeitet doch gar nicht, hätte Erin am liebsten gerufen, sie wollte einfach nicht mitkommen! Doch stattdessen sagte sie: »Da bin ich also«, und streckte Deb die Hand entgegen.
Anstatt sie zu schütteln, umfasste Deb sie mit beiden Händen und drückte sie. »Ich hätte schon längst darauf bestehen müssen, dass du mich besuchen kommst. Noch als du klein warst.« Ihre Worte klangen wie ein leises Summen. Um sie herum wurden Babys geherzt und kleine Kinder in die Arme geschlossen. Erin setzte sich neben Deb, aber weit genug entfernt, dass sich ihre Beine nicht berührten.
Vor dem Besuch hatte Erin genau überlegt, wie sie sich ihrer Mutter gegenüber verhalten wollte. Forsch wollte sie auftreten, aber distanziert und zurückhaltend. Doch plötzlich waren alle Vorsätze dahin. Debs summender Tonfall war ihr so vertraut, und sofort wich ihre Reserviertheit der Intensität des Augenblicks.
Deb fragte ihr Löcher in den Bauch: Was magst du am liebsten? Türkis, Perlen, Anne auf Green Gables, Backstreet Boys, Mathe, Linguine, Schokolade, The Sound of Music. Jungs? Tommy Kilpatrick. Und Skateboards. Erin wurde ganz schwindlig von den vielen Fragen, denn sie war es nicht gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen.
Bets hustete, und obwohl sich Erin nicht ganz sicher war, schien es ihr doch, als verberge sich dahinter ein leises Schluchzen. Dann fing Bets an, mit Erins Talenten zu prahlen. Sie erzählte, dass die Mathematiklehrerin überzeugt war, aus Erin würde später eine großartige Ingenieurin, und dass Erin gleich im ersten Jahr auf der Highschool eine wichtige Rolle in einem Musical bekommen hatte. Sie sprach über Erins Gesangsunterricht und von der Aussicht auf ein Stipendium für Berkeley oder Juilliard oder eine andere renommierte Musikhochschule. Das ging eine ganze Weile so, und dann wanderte das Gespräch zu den Themen, über die sie immer sprachen, wenn die Worte rar wurden – das Wetter und die Oliven. Erin konnte es nicht ertragen, die wertvolle Zeit mit sinnlosem Gerede über die Anzahl der Blüten pro Olivenzweig zu verschwenden.
»Warum hast du meinen Vater erschossen?«
Deb kniff die Augen zusammen, dann drehte sie Erin den Rücken zu und starrte schweigend auf ihre Fingernägel.
»Mum!«, rief Erin und sofort richteten sich alle Blicke auf sie. Bets, die ihnen gegenübersaß, schüttelte schnell den Kopf und versuchte, das Schweigen zu überbrücken, indem sie von Frank erzählte.
Erin sah sich um. Die meisten Insassen waren junge Frauen. Ihr Blick blieb an einer Schwarzen hängen, die ihren Sohn
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