Der Olivenhain
hinters Ohr. »Wirklich wunderschön.«
Eine Klingel ertönte, die Besucher packten zusammen und machten sich zum Abschied bereit. Eigentlich war nur eine kurze Umarmung und ein rascher Kuss erlaubt, doch die Aufseherinnen sahen großzügig darüber hinweg, wenn kleine Kinder sich nicht lösen wollten von ihren Müttern. Sie gestatteten sogar, dass die Babys bis zur Stahltür auf dem Arm der Mutter blieben. Deb allerdings befolgte die Vorschriften peinlich genau und umarmte beide nur flüchtig. Auch Erin strebte gleich zur Tür, und die Einzige, die sich noch einmal umdrehte und zum Abschied an der Tür winkte, war Bets.
Sie waren schon über eine Stunde gefahren, als Erin endlich fragte, warum Bets das Thema gewechselt hatte, als sie endlich den Mut gefunden hatte, ihre Mutter nach dem Grund für ihre Tat zu fragen.
»Warum hast du dich auf ihre Seite gestellt? Ich habe doch ein Recht darauf, es zu erfahren.«
»Du hast deine Mutter damit überfallen.«
»Ich habe sie nicht überfallen, ich will das schon lange wissen.«
»Du weißt, was geschehen ist. Deine Mutter hat deinen Vater im Streit erschossen. Es gibt keine geheimen Verwicklungen oder weitere Verdächtige. Für euch ist es doch wichtiger, euch neu kennenzulernen.«
»Ich habe sie ja nie gekannt. Ich weiß noch nicht einmal, was Deb da den ganzen Tag macht.«
»Du meinst, deine Mutter «, sagte Bets, und ihre Augen verengten sich. »Ich kann es dir sagen: Ihr Leben besteht aus Warten. Aufstehen. Warten. Anziehen. Warten. Frühstücken. Warten.«
»Aber sie muss doch auch irgendetwas tun !«
»Ja, es gibt Fernsehen und die anderen Frauen.«
»Hat sie Freundinnen?«
»Ich würde es nicht unbedingt Freundinnen nennen, es ist eher eine Art …«
»Hassliebe?« Dieses Wort hatte sie neulich im Jugendmagazin Seventeen gelesen.
»So kann man es ausdrücken«, erwiderte Bets lächelnd.
Erin schwieg, beschleunigte und freute sich, dass Bets nicht zu merken schien, dass sie an den anderen Autos vorbeiflogen. Den ganzen Tag hatte sie sich über ihre Mutter geärgert, doch als sie nun am Steuer saß – es war erst das zweite oder dritte Mal, seit sie den Führerschein hatte –, verpuffte ihr Ärger und machte der gewohnten Traurigkeit Platz. »Ich hätte sie wohl lieber nach ihrem Alltag und den anderen Frauen fragen sollen.«
»Darüber hätte sie mit dir nicht gesprochen«, sagte Bets müde. »Sie musste über zehn Jahre warten, um dich zu sehen. Sie wollte nur deine Stimme hören und alles über dich erfahren.«
»Dann erzähl du mir etwas über sie. Wie war das alles für sie?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Du musst es selbst herausfinden, deshalb habe ich dich mitgenommen. Sie muss es dir in ihren eigenen Worten erklären.« Bets lehnte den Kopf gegen die Scheibe. »Fahr langsamer.«
Erin nahm den Fuß vom Gaspedal, blieb jedoch auf der Mittelspur. »Warum kommt Grandma Callie eigentlich nie mit?«
»Das weiß nur Gott allein«, antwortete Bets und schloss die Augen. »Meine Tochter hat ein Herz aus Stein.«
Callie war Erin nie hart oder gefühllos vorgekommen. Es war eher Bets, die unzugänglich und verschlossen war. Doch auf einmal betrachtete Erin ihre Urgroßmutter mit anderen Augen. Sie schien müde und erschöpft von den Zerwürfnissen mit Callie und der Sorge um ihren Mann, dessen Demenzerkrankung ihn ihr ebenfalls entfremdet hatte. Erin wünschte, sie könnte etwas tun, damit Bets sich den Menschen um sie herum wieder annäherte.
Mitfühlend sah Erin zu ihrer Urgroßmutter hinüber und wollte gerade fragen, wie Callie als Kind war, doch da hörte sie ihre Urgroßmutter schnarchen. Sie drückte wieder aufs Gaspedal, schaltete das Radio ein und fragte sich stattdessen, wie das Leben der Großmütter wohl verlaufen wäre, wenn sie damals nicht nach Hill House gezogen wäre.
4.
Die andere Seite
D i e Eröffnung der Sitzung verzögerte sich. In dem stickigen Raum schleppten sich die Minuten zäh dahin.
»Worauf warten wir denn?«, fragte Anna.
»Es ist schon zehn nach«, sagte Bets so laut, dass es jeder hören konnte.
Der Anwalt flüsterte erst leise mit Deb, dann wandte er sich an die Großmütter. »Draußen im Wartebereich gab es offenbar einen Zwischenfall mit Carls Mutter.«
»Was für einen Zwischenfall?« Erin sah hinüber zu Deb, die ihre Arme auf dem Tisch verschränkt hatte und den Kopf darauflegte. Wie oft hatte sie versucht, ihre Mutter über den Vater und dessen Familie auszufragen, war jedoch immer auf eisiges
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