Der Olivenhain
entspannten sich die Männer, und die aufgestaute Anspannung im Raum löste sich auf. Erin ergriff Annas Hand und streichelte die welke Haut ihres Handrückens. Schon als Kind hatte sie sich immer beruhigt, sobald sie Annas Hand spürte.
Von dem Moment an, in dem sie von Carls Tod erfuhren, wollte seine Familie nichts mehr mit Erin zu tun haben. An ihrem dreizehnten Geburtstag erhielt sie eine Karte von ihrem Großvater väterlicherseits, der an Prostatakrebs erkrankt war und vor dem nahenden Tod sein Gewissen erleichtern wollte. Erin erinnerte sich nur an einen Satz, der ihr wie ein abgenudelter Popsong immer wieder in den Sinn kam: Du bist die Tochter Deiner Mutter, es war uns unmöglich, das Risiko mit Dir einzugehen.
»Seit zwanzig Jahren warte ich darauf, dieser Frau endlich die Meinung zu sagen«, murmelte Bets, während der Ausschuss die ersten Formalitäten abhakte. »Ein kleines Kind von vier Jahren einfach im Stich zu lassen! Und was sie damals beim Prozess gesagt hat …«
»… psst, das ist nicht der richtige Ort hier. Außerdem waren wir froh, dass wir Erin für uns alleine hatten«, flüsterte Anna. »Stell dir vor, wir hätten sie mit dieser furchtbaren Familie teilen müssen!«
Deb warf ihnen einen angespannten Blick zu. Erin wollte ihr zulächeln, doch in dem Augenblick begann das Baby im Bauch zu strampeln, und sie verzog das Gesicht zu einer Grimasse.
Alles in Ordnung?, versuchte Deb lautlos zu signalisieren, denn sie durfte nur ihren Anwalt und die Ausschussmitglieder direkt ansprechen.
»Das Baby«, sagte Erin in ihre Richtung, während sie sich kurz erhob, um die Lendenwirbel zu massieren. Dabei streckte sie den Bauch deutlich sichtbar heraus.
Carls Schwester beugte sich zu ihrer Mutter hinüber und sagte laut vernehmlich: »Man sollte diesen Frauen verbieten, sich fortzupflanzen. In ihren Adern fließt böses Blut.«
Während Carls Mutter Erin abschätzig musterte, bildete sich eine tiefe Furche auf der künstlich gestrafften Stirn. »Sie ist ja im richtigen Moment schwanger geworden. Wahrscheinlich ein hinterlistiger Versuch, die Kommission für sich einzunehmen. ›Ach, seht her, ich armes Wesen bin schwanger, und meine Mum ist im Knast!‹«
Erin und Bets wollten beide aufspringen, doch Anna hielt sie zurück und zischte: »Nicht jetzt.« Debs Anwalt sah auf und schüttelte energisch den Kopf. Der Blonde mit den abgekauten Fingernägeln blickte ebenfalls kurz auf und wollte ins Mikrofon sprechen, doch es war noch nicht angeschaltet.
»Keine Gespräche unter den Anwesenden bis zum Ende der Anhörung. Erst dann bekommen Sie Gelegenheit zu einer Stellungnahme. Bei Nichtbeachtung dieser Vorschrift werden sie des Saales verwiesen.« Dann nickte er der Stenografin zu.
Ms. Rivera ging nun ihrerseits die Formalitäten durch, bevor sie sich räusperte und in einem Zug ein Glas Wasser trank. Dann hielt sie eine Ansprache, die sie, so jedenfalls schien es Erin, sehr sorgfältig vorbereitet hatte. »Ich möchte den Ausschuss daran erinnern, dass es sich bei der furchtbaren Tat von Deborah Keller Ripplinger um ein schweres Gewaltverbrechen handelt. Es scheint mir geboten, den Tathergang noch einmal ausführlich zu schildern. Der damals diensthabende Beamte sprach von einem regelrechten Blutbad.«
Während der Gerichtsverhandlung 1986 hatte dieser Beamte ausgesagt, er habe die Leiche von Carl Ripplinger auf dem Boden der von den Eheleuten gemeinsam angemieteten Wohnung vorgefunden. Er war durch mehrere Schüsse hingerichtet worden, die meisten im Brust- und Lendenbereich. Erin faltete die Hände über dem Bauch und senkte den Kopf.
Es ging jetzt alles so schnell. Ihr wurde klar, dass Ms. Rivera nichts unversucht lassen würde, Debs Tat in drastischen Farben zu schildern. Erin wollte nicht, dass das Baby das alles hörte. Auch sie wollte es nicht hören, deshalb summte sie im Stillen Dumbos Wiegenlied Baby mine, dry your eyes, Baby mine . Sie wollte, dass ihr Kind ihrer Stimme lauschte und nicht der Rekonstruktion der schrecklichen Taten seiner Großeltern.
5.
Puzzleteile
S o lange sie denken konnte, war Erin auf der Suche nach den fehlenden Puzzleteilen der Geschichte ihrer Eltern gewesen. Manches schnappte sie auf, wenn ihre Großmütter miteinander sprachen, dann vertiefte sie sich wieder in alte Familienfotos oder stöberte in Kisten auf dem Dachboden mit der krakeligen Aufschrift »Für Deb aufbewahren«.
Stundenlang wühlte sie in den Kartons mit Überbleibseln aus Debs Kindertagen
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