Der Olivenhain
Schweigen gestoßen! Deb hatte ihr entweder den Rücken zugedreht oder die Besuchszeit abrupt beendet. Auch aus den Großmüttern war nichts herauszubekommen.
Erin legte eine Hand auf ihren Bauch und überlegte, ob Carls Familie von ihrer Schwangerschaft wusste. Ein eng anliegendes T-Shirt, das sie extra für die Anhörung ausgewählt hatte, betonte die Wölbung ihres Bauches noch stärker.
»Sie hat einen Nervenzusammenbruch, wahrscheinlich wegen der Aufregung. Die Bezirksstaatsanwältin kümmert sich um sie«, sagte der Anwalt und begab sich wieder auf seinen Platz, um sich seinen Aufzeichnungen und Debs umfangreicher Akte zu widmen.
Bei der ersten Anhörung vor vielen Jahren hatten Carls Mutter Lucille und seine Schwester nach kalifornischem Recht als Opfer ausgesagt. Nach ihrer Rückkehr aus Rom besorgte sich Erin alle Unterlagen von damals, um sich auf Debs zweiten Antrag auf Haftentlassung vorzubereiten. Dabei stellte sich heraus, dass sie als Tochter des Ermordeten laut Gesetz ebenfalls Opfer war und das Recht hatte, bei der Verhandlung gehört zu werden. Eigentlich war das Gesetz für Menschen wie Carls Mutter erlassen worden, die mit leidenschaftlichem Pathos und tränenreichen Plädoyers jedes Strafmaß ablehnten, das nicht mindestens lebenslang für den Täter vorsah. Leben um Leben.
Als Deb 1986 wegen Mordes verurteilt worden war, glaubten alle, dass sie nach spätestens sieben Jahren wieder freikäme. Erin erinnerte sich noch, dass Anna ihr versprochen hatte, ihre Mutter sei wieder zu Hause, bevor sie ein Teenager wäre. Doch in den folgenden Jahren verschärfte sich die Gesetzeslage, und die öffentliche Meinung wandte sich erbarmungslos gegen Straftäter, besonders im Staat Kalifornien.
Debs erster Antrag auf Bewährung wurde abgelehnt, und der Ausschuss verfügte seinerzeit, dass sie erst nach dreizehn Jahren einen neuen Antrag stellen durfte. Die damals elfjährige Erin war am Boden zerstört. Sie hatte sich fest an die Hoffnung geklammert, dass ihre Mutter bald wieder bei ihr war.
Doch als Erin vor zwei Monaten die Protokolle der ersten Anhörung gelesen hatte, stellte sie fest, dass sie die Haltung von Carls Mutter im Grunde nachvollziehen konnte. Danach schlief sie nächtelang schlecht und war drauf und dran, die Idee aufzugeben, ihre Mutter aus dem Gefängnis herauszuholen. Doch schließlich wurde ihr klar, dass es allein an ihr lag, die durch den Opferschutz verankerte Einseitigkeit des Verhandlungsprozesses zu durchbrechen. Als Opfer des Verbrechens erwartete man von ihr, dass sie die Seite ihres Vaters einnahm. Doch niemand konnte sie daran hindern, trotzdem für ihre Mutter einzutreten. Erin hatte das Recht, gehört zu werden, und es gab keine Möglichkeit, ihr den Mund zu verbieten.
Als Carls Familie schließlich den Raum betrat, entstand eine leichte Unruhe. Ms. Rivera, die Vertreterin der Staatsanwaltschaft, hatte den Arm um Carls Mutter gelegt. Die alte Dame tupfte sich unablässig mit einem bestickten Taschentuch um Nase und Augen. Alle paar Meter stöhnte sie laut und stützte sich schwer auf Ms. Rivera. Wenn Dad nicht tot wäre, müsste ich dieses Nervenbündel tatsächlich Großmutter nennen, dachte Erin befremdet.
»Diese Frau kann sich einfach nicht am Riemen reißen«, murmelte Anna.
»Bei der Gerichtsverhandlung ist sie im Verhandlungssaal zusammengebrochen«, sagte Bets über Erin hinweg zu Anna. »Wenigstens heult ihre Tochter nicht.«
Carls Schwester Lorraine führte ihre Mutter zu einem Platz auf der durch einen schmalen Mittelgang von Erin und ihren Großmüttern getrennten anderen Seite des Raumes. Lorraine war in Debs Alter, doch mit ihrem schicken grauen Kostüm und dem kunstvoll zum Knoten arrangieren blonden Haar sah sie mindestens zehn Jahre jünger aus. Aber sie hatte auch etwas Unnachgiebiges an sich, und als sie ihrer Mutter erst behutsam auf ihren Platz half, diese jedoch gleich wieder aufsprang, weil der Sitz so kratzig war, reagierte sie unwirsch.
Ms. Rivera, die Vertreterin des Staates Kalifornien, nahm derweil an ihrer Seite des Tisches gegenüber von Carls Familie Platz und lächelte freundlich in die Runde. Sie war ziemlich jung, kaum älter als Erin. Ihre hellbraune Haut schimmerte golden, und ihre rundlichen Züge strahlten Wärme und Herzlichkeit aus. Es klang, als sei sie nicht aus der Gegend, aber es war eher ein leises Schnurren als ein fremder Akzent.
»Wir sind so weit«, sagte sie zu den Ausschussmitgliedern.
In ihrer Gegenwart
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