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Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Miller Santo
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und fand heraus, dass sie irgendwann einmal eine Vorliebe für Porzellankätzchen gehabt haben musste. Zu einem anderen Zeitpunkt waren es – wenn sie den Inhalt der beiden Papiertüten richtig deutete – Hasenpfoten und Radiergummis in Regenbogenfarben gewesen. Doch erst mit sechzehn Jahren machte sie eine echte Entdeckung. Damals fiel ihr zufällig Debs Exemplar von Ruf der Wildnis in die Hände.
    Das Buch war innen komplett ausgehöhlt und enthielt das geheime Tagebuch ihrer Mutter. Der Einband war aus blassblauem Lederimitat, die Seiten hatten einen Goldrand, und das dicke Papier war eng mit violetter Tinte beschrieben. Die Buchstaben waren so breit wie hoch, und zwischen den Wörtern gab es kaum Zwischenräume, was das Entziffern merklich erschwerte. Erin war der Fund nicht ganz geheuer, denn eigentlich hätte sie es anständig gefunden, diese intime Beichte erst nach dem Ableben der Verfasserin zu lesen. Doch sie war sich nicht sicher, ob die Haftanstalt in Chowchilla als Friedhof zählte.
    Die Wahrheit über ihre Mutter schien endlich in greifbare Nähe zu rücken. Je älter sie wurde, desto klarer wurde ihr, dass ihr die Großmütter wichtige Einzelheiten vorenthielten. Auf viele Fragen erntete sie nur eisernes Schweigen, ab und zu schnappte sie Gesprächsfetzen auf und hörte, dass Anna und Bets sich Sorgen machten, weil sie so viel Zeit bei der Mutter in Chowchilla verbrachte.
    In dem Jahr, in dem sie das Tagebuch fand, hatte sie die volle Fahrerlaubnis erhalten, und seitdem fuhr sie fast jeden Sonntag zu ihrer Mutter. Bei der Abfahrt in Kidron nahm sie sich jedes Mal fest vor, mit Deb über das Tagebuch und ihren Vater zu sprechen, doch immer, wenn der Stacheldraht auf dem Metallzaun der Vollzugsanstalt in der Ferne aufleuchtete, verließ sie der Mut.
    Die verzweifelte Hoffnung, der Mutter durch die vielen Besuche näherzukommen, hatte sich nicht erfüllt. Deshalb setzte sie nun auf das Tagebuch. Doch bald musste sie einsehen, dass die Verfasserin kaum Ähnlichkeit hatte mit der Frau, die sie im Gefängnis besuchte. Diese schien nur noch ein blasses Abbild des Mädchens aus dem blauen Buch zu sein, was sich sowohl in ihrem Verhalten als auch in den Briefen widerspiegelte, die sie Erin aus der Vollzugsanstalt schrieb.
    Auch Debs Handschrift hatte sich merklich verändert: Eng und gedrängt, fast gebändigt schienen die Buchstaben, als wollte sie ihr Geheimnis in dieser kompakten Schrift einkerkern. In ihrem Tagebuch hingegen hatte sie ihre Geheimnisse noch fröhlich und offen in großen, schwungvollen Lettern herausposaunt.
    Bevor sie sich auf die Suche nach weiteren Quellen begab, las Erin das Tagebuch vier Mal vollständig durch. Die erste Seite datierte vom 1. Januar 1978 : Was geht ab? Wenn ich bloß dran denke, dass nächste Woche die Schule wieder losgeht! Ich weiß schon jetzt, dass Heidi und die blöde Streberin Natalie mich wieder ärgern werden und über mich lästern werden. Aber ich habe mir etwas überlegt: Ich werde mich bei Natalie einschmeicheln und ihr dann ganz fies unter die Nase reiben, dass Heidi bloß mit ihr befreundet ist, weil sie ein paar Pferde hat. Heidi hat auch ein Gesicht wie ein Pferd und fette Nasenlöcher dazu!!! Ich werde mal ein Bild von ihr mit dicken Nüstern malen und es überall herumzeigen.
    Aber Mum sollte ihre Nase lieber nicht in mein Tagebuch stecken. Daddy hat versprochen, dass er aufpasst, dass sie es nicht liest. Ich weiß doch, was sie sagen wird. Sie wird sagen, ich bin echt gemein, bloß weil sie ein schlimmes Bein hat und sich die anderen immer über sie lustig machen. Aber Heidi und Natalie waren auch gemein zu mir. Heidi war früher meine beste Freundin, nicht Natalies.
    Seitenweise schmiedete sie Intrigen und Verschwörungsszenarien gegen die beiden, in der Absicht, daraus ein Freundschaftskettchen zu basteln, das am Ende in drei Einzelteile zerspringt. Ich werde beide dazu bringen, mich zu mögen, und dann sorge ich dafür, dass sie sich am Ende gegenseitig hassen .
    Als sie es zum ersten Mal las, war Erin überrascht von der Wucht der Gefühle. Sie hatte Deb nie wütend erlebt, und ihre eigenen Freundschaften waren nie so leidenschaftlich gewesen, sondern glichen eher den Zyklen von Ebbe und Flut: Wenn sich die eine verabschiedete, kam bald schon die nächste.
    Diesen Einträgen nach zu urteilen, war Deb als Teenager aufbrausend und unduldsam, witterte überall Verrat und hatte Angst, allein dazustehen. Vergeblich suchte Erin nach einem

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