Der Olivenhain
Pension. Carl erledigte dort Hausmeisterdienste; deshalb mussten sie keine Miete fürs Zimmer bezahlen.
Die Pension war eine Art Wohnheim für alte, alleinstehende Männer und fraglos ein Relikt aus vergangenen Tagen. Wer früher auf dem Heiratsmarkt keine Chance hatte – weil er als jüngster Spross der Familie kein Anrecht auf ein Erbe hatte oder nicht den Mumm, anderswo sein Glück zu versuchen –, wurde dort von Mrs. Castello aufgenommen, die, gegen Aufschlag, auch für die Männer kochte und Wäsche wusch. Carl wohnte gern dort, weil er sich so Callies Kontrolle entziehen konnte.
Als sich die Rodeosaison 1986 ihrem Ende zuneigte, war Carl seit über zwölf Tagen verschwunden. Die Ausgaben für seine Reisen überstiegen das Preisgeld, das er in dem Jahr eingenommen hatte. Deb war abends in der »Green Door Tavern« versackt und hatte Bobby erklärt, dass ihre Ehe gescheitert sei und Carl nicht mehr zurückkäme.
Um drei Uhr in der Früh rief Carl aus einer Telefonzelle an. Wie immer krakeelte er noch über die Ansage der Telefonistin hinweg in den Hörer und gab die Ankunftszeit des Busses, fünf vor elf, durch. Deb war betrunken, als sie den Anruf in Hill House entgegennahm. Sie fing an zu weinen, und noch lange nachdem Carl aufgelegt hatte, erzählte sie der Frau von der Telefonvermittlung, wie sehr sie ihren Mann liebe und wie froh sie sei, dass er endlich nach Hause käme.
Callie fand sie am nächsten Morgen schlafend auf dem Boden mit dem Telefonhörer am Ohr. Sie stupste ihre Tochter mit dem Fuß an, und Deb torkelte daraufhin ins Bett. Dann weckte Callie ihre Enkelin, half ihr beim Anziehen und nahm sie mit in den Pit Stop, denn sie ahnte, dass sie Erin nun tagelang nicht zu Gesicht bekommen würde. Unabhängig davon, sagte Callie später vor Gericht aus, dass Deb voller Vorfreude Carls Rückkehr erwartet habe. Erin malte sich aus, wie Deb umfangreiche Vorbereitungen für Carls Heimkehr getroffen hatte. Sie packte ihre Sachen in das Kofferset, das ihr Onkel Lester zur Hochzeit geschenkt hatte, nahm ein langes Bad und lackierte die Fußnägel in knalligem Pink.
Kurz vor dem Abendessen holte sie Erin im Pit Stop ab und fuhr mit ihr zu Mrs. Castellos Pension. Da Deb nicht kochen konnte, aßen sie dort gemeinsam mit den Männern zu Abend. Mrs. Castello sprach ein Gebet, dann teilte sie das aufgewärmte Essen aus, und wenn man ihren Aussagen Glauben schenken durfte, aß Erin an diesem Abend zum ersten Mal Hackfleischauflauf und wollte noch einen Nachschlag haben.
Mrs. Castello behandelte Carl wie einen Sohn. Sie versicherte dem Staatsanwalt, dass Deb die Tat bestimmt nicht geplant hatte. Denn wie konnte eine junge Frau die Absicht haben, einen so witzigen und spritzigen Mann wie Carl zu töten? Sie gab zwar zu Protokoll, Deb sei sich Carl vielleicht ein wenig zu sicher gewesen, doch sie glaube fest an einen tragischen Unfall. »Wie wenn man einem Hund einen Tritt gibt«, hatte sie erklärt. »Man weiß genau, wie sinnlos es ist, aber irgendwie muss man den Köter davon abbringen, schon wieder in die Geranien zu pissen.«
Als es in der Mordnacht langsam Zeit wurde, zum Busbahnhof zu fahren, bot Mrs. Castello an, auf Erin aufzupassen. Die schlief bereits auf ihrer Matratze in der Kleiderkammer, die Deb gleich nach Erins Geburt zu einem kleinen Nebenraum umfunktioniert hatte.
Als Erin die Protokolle las, wunderte sie sich darüber, wie genau Mrs. Castello über ihre Eltern Bescheid gewusst hatte. Nein, Deb hatte nie blaue Flecken am Körper, nirgends. Sie hatte bestimmt keine Angst vor ihrem Mann. Die Kleine? Sie haben sie über alles geliebt!
Erin bedauerte sehr, dass das Haus mittlerweile abgerissen war und stattdessen eine Apotheke dort stand. Und noch mehr bedauerte sie, dass Mrs. Castellos Verstand sich, ebenso wie der ihres Urgroßvaters Frank, längst in andere Sphären verabschiedet hatte, weshalb auch sie im Golden-Sunsets-Heim lebte und sinnloses Zeug vor sich hin brabbelte. Von ihr hätte sie bestimmt die Wahrheit über ihre Eltern erfahren.
Der Polizei gab Deb zu Protokoll, sie habe sich entweder in der Uhrzeit geirrt oder der Bus habe große Verspätung gehabt. Erin stellte sich vor, wie ihre Mutter an der Greyhound-Haltestelle am Antilope Drive auf einer Bank saß und wartete. Der Abend war kühl, und sie fror in ihrem leichten Baumwollkleid. Durch das lange Warten war alle Vorfreude verpufft, sie fühlte sich ausgelaugt und spürte ihre schweren Glieder. Und plötzlich fing sie an, von
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