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Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Miller Santo
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Anhaltspunkt, der ihr ihre Mutter sympathisch machen würde. Im Großen und Ganzen überwog das Bild einer leicht übergewichtigen, tyrannischen Person.
    Dann wurden die Einträge seltener, nur wenn sie Streit mit ihren Freundinnen hatte, war ihr das einen Eintrag wert. Erst als sie Carl kennenlernte, schrieb sie wieder täglich Tagebuch. So erfuhr Erin, dass sich ihre Eltern auf einer Rodeo-Veranstaltung in Redding ineinander verliebt hatten. Damals sollte Deb eigentlich im Matheunterricht sitzen, doch mit sechzehn trieb sie sich lieber an spannenderen Orten als in der Schule herum. Kidron hatte einem jungen Mädchen wenig zu bieten, weshalb sie sich an diesem Nachmittag mit ein paar Freundinnen aus dem Staub gemacht hatte, um ins eine Stunde entfernte Redding zu fahren.
    Dort saßen sie dann, die Ausdünstungen der Bullen in der Nase, auf den staubigen, nicht überdachten billigen Plätzen der Tribüne ganz dicht bei den Männern. Echte Cowboys , wie Erins Mutter ehrfürchtig in ihrem Tagebuch vermerkte. Wenn der Gestank der Tiere herüberwehte, hielten sich die Mädchen parfümierte Taschentücher vors Gesicht, mit denen sie auch den rittlings auf den Boxen sitzenden Cowboys zuwinkten, während die auf ihren Auftritt warteten.
    Am späten Nachmittag ging der Wettkampf im Bulldogging los, bei dem die Männer versuchen mussten, einen bockenden Jungbullen mit bloßen Händen niederzuringen. Carl war als Erster dran. Deb war nie zuvor beim Bulldogging gewesen und deshalb völlig verblüfft, als Carl mitten im Galopp aus dem Sattel seines Pferdes sprang und sich auf die Hörner eines siebenhundertfünfzig Pfund schweren Stieres namens Monkey Lip stürzte. Er brauchte weniger als vier Sekunden, bis er dem Bullen mit den Armen den Hals verdrehte und er zu Boden ging, doch die reichten, um das Preisgeld und Debs Zuneigung zu gewinnen. »Liebe auf den ersten Blick« sei es gewesen, vermerkte sie in ihrem Tagebuch. Aber das hatte da schon öfter gestanden. Vor Carl hatte es andere Jungs gegeben, allerdings noch keinen richtigen Mann, soweit Erin das zurückverfolgen konnte.
    Carl war nicht groß, sondern hatte die kompakte Statur eines Hydranten, seine Augen waren hellgrün, und die Pausbacken ließen ihn sehr jung erscheinen, obwohl er schon siebenundzwanzig war. Deb sah ihn sich genau an, wie er nach dem Kampf seinen Hosenboden abklopfte, den Hut abnahm und sich vor den Zuschauern verneigte. Sie bemerkte den Schweiß in seinen rotblonden Haaren, und ehe sie es sich versah, hatte sie »Meiner, er gehört mir! Mir!« gerufen. Die anderen Mädchen lachten und zogen sie auf, aber ihr war das egal.
    Sie dachte an Bobby, den Nachbarsjungen, mit dem sie letzten Sommer im Olivenhain geknutscht hatte, der ihr immer wieder unter den Rock greifen wollte. Damals hatte sie Bobbys Hand jedes Mal zurückgeschoben, doch die Hand dieses Cowboys würde sie überall hinlassen, das wusste sie.
    Die Gefühle, die die Mutter im Tagebuch beschrieb, kannte Erin damals eher vom Hörensagen. Ein paar Mal hatte sie mit einem Jungen geknutscht, doch das waren harmlose Küsse. Die Großmütter führten ein strenges Regiment; sie wachten über jeden ihrer Schritte und füllten ihre Tage aus, sodass ihr kaum Zeit für Dummheiten blieb. Unter der Woche standen Tanzunterricht, Klavierunterricht, Theaterproben und Aufführungen mit dem Laientheater von Kidron auf dem Programm, und samstags fuhr sie drei Stunden nach San Francisco und wieder zurück für Gesangsstunden an der Royal Opera. In der übrigen Zeit musste sie Callie im Laden helfen. Freie Tage lernte sie erst in den Winterferien nach dem ersten Trimester im College kennen. Damals wurde ihr bewusst, dass die Großmütter es darauf angelegt hatten, sie laufend zu beschäftigen.
    Die ersten Tagebucheinträge über Carl lasen sich, als sei ihre Mutter endlich ein bisschen erwachsener geworden, doch bereits zwei Monate nach ihrem ersten Treffen bei der Rodeo-Veranstaltung 1981 endeten die Aufzeichnungen mit den Worten: Bin schwanger, muss heiraten .
    An dieser Stelle hatte sich auch Debs Schrift merklich verändert. Die Buchstaben waren plötzlich eng und gedrungen, wie in den Briefen, die Erin später aus dem Gefängnis bekam.
    Die fehlenden Teile der Geschichte stückelte sich Erin anhand von Mikrofiches in der Landesbibliothek zusammen, im Sommer bevor sie aufs College ging. Damals saß sie stundenlang über Hunderte von Zeitungsartikel gebeugt, die stets dieselbe Story wiederholten: Betrogene

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