Der Olivenhain
Ehefrau erschießt ihren Mann im Zorn.
Die Berichte unterschieden sich nur in Details voneinander. Manche konzentrierten sich auf die Waffe, andere auf die Geschichte ihrer Familie in Kidron. Nur ganz selten wurde am Ende, wo bei Bedarf für Anzeigen redaktionell gekürzt werden konnte, erwähnt, dass das Ganze – der Suff, der Streit, die Schüsse – sich abspielte, während die vierjährige Tochter auf einer Matratze in der Kleiderkammer lag.
Erin wusste, dass Ms. Riveras Schilderung bald diese Stelle erreichen würde. Sie würde genau beschreiben, wie die Kissen damals in ihrer kleinen Schrankkammer angeordnet waren, und ihre Puppe Regina Regenbogen erwähnen. Spätestens dann würde Erin keine Luft mehr bekommen.
Sie hatte immer versucht, das zu verdrängen, doch wenn sie gezwungen wurde, sich zu erinnern, fegte ein heißer, grausamer Santa-Anna-Wind durch ihren Körper, und sie knickte um wie trockenes Steppengras. Sie wollte aus dem stickigen Raum fliehen, zum Auto rennen, weg von ihrem Leben und den alten Frauen, dem Chaos entrinnen. Doch sie blieb sitzen und krallte ihre Finger in das kratzige blaue Sitzpolster.
Das Baby wand sich und bekam einen Schluckauf, als wollte es damit zu verstehen geben, dass es die Angst seiner Mutter mitbekam. Erins Panik rührte nicht von der Erinnerung an die Schüsse und auch nicht daher, dass sie von ihrer Mutter im Grunde nichts wusste. Was Erin in Angst und Schrecken versetzte, war, dass sie ihre eigene Rolle in der Geschichte von Carl und Deb nicht kannte.
Sie hatte dieses Gefühl schon einmal gehabt, damals in der Landesbibliothek, als sie über den Mikrofisches saß, im Chronicle über die Mordnacht recherchierte und froh war, dass sie sich hinter den ockerfarbenen Trennwänden zwischen den Kabinen verstecken konnte. Auf ihrer verzweifelten Suche nach den fehlenden Puzzleteilen und nach einer Antwort auf ihre Fragen war sie im letzten Abschnitt des Artikels völlig unvermutet auf sich selbst gestoßen: ein vierjähriges Mädchen nebenan . Sie war plötzlich eingeschlossen in einem Raum, an den sie sich nicht erinnern konnte, zusammen mit Menschen, von denen sie nichts wusste. Und das machte ihr Angst.
6.
Erins Version der Geschichte
I n dem stickigen Verhandlungsraum näherte Ms. Rivera sich langsam dem Moment, als man Deb mit der Waffe in der Hand im Schlafzimmer fand. Erin schloss die Augen und fing an, dem Baby im Stillen ihre Version der Geschichte zu erzählen. Nur so konnte sie ihre Angst kontrollieren. Sie ahnte zwar, dass es so, wie sie es sich dachte, nicht gewesen sein konnte, aber es musste einfach wahr sein.
Also verschloss Erin die Ohren vor den juristischen Fakten, die Ms. Rivera Wort für Wort wiedergab, weil sie schwarz auf weiß in den Gerichtsakten standen. Sie hatte ihre eigene Sicht auf die Dinge, denn immerhin war sie selbst dabei gewesen.
Deb hatte sich ihre Ehe anders vorgestellt. Sie war zu jung und Carl zu oft weg. Er wollte weder häuslich werden noch den Job, den ihm Bets’ Mann im Hain angeboten hatte, annehmen. Stattdessen nahm er an jedem noch so unbedeutenden Wettkampf teil und war quasi neun Monate im Jahr auf Achse. Manchmal meldete er sich erst nach zehn Tagen aus einer Telefonzelle und bellte, noch bevor der Telefonist fragen konnte, ob sie das R-Gespräch annehmen wollte, lediglich die Ankunftszeit seines Busses in den Hörer.
Deb wartete immerzu auf Carls Anrufe, und wenn er eine Woche nichts von sich hatte hören lassen, kam sie fast um aus Angst, er hätte sie nun für immer verlassen. Dann nahm sie das Verzeichnis sämtlicher Rodeo-Veranstaltungen im Umkreis vom Kühlschrank und suchte nach einem Hinweis, wo er sich im Augenblick aufhalten könnte. Sie wälzte den Atlas und maß mithilfe eines Schnürsenkels kilometergenau die Distanz beispielsweise zwischen Malta und Roundup, Montana nach. Um abzunehmen aß sie tagelang nur Melonen und Stangensellerie, damit er keinen Grund hatte, sie zu verlassen. Wenn sie länger als zehn Tage nichts von ihm hörte, gab sie ihre kleine Tochter Erin in die Obhut ihrer Mutter und hing am Tresen der »Green Door Tavern« ab.
Das hatte Erin von Bobby, einem der Stammgäste, erfahren. Obwohl Bobby mit Natalie zwei Kinder hatte und seine eigene Familie kaum ernähren konnte, flirtete Deb mit ihm und malte sich aus, in seinen Armen Halt zu finden, falls Carl tatsächlich eines Tages nicht mehr nach Hause kommen sollte. Wenn Carl zufällig einmal zu Hause war, wohnten sie in Mrs. Castellos
Weitere Kostenlose Bücher