Der Olivenhain
einem anderen Leben zu träumen, weit weg von Kidron und Carl.
Das Geräusch quietschender Reifen riss sie unvermittelt aus ihren Gedanken, und sie sprang von der Bank auf. Der Bus war da, sie musste sich zusammenreißen, Carl durfte sie so nicht sehen. Er war der einzige Passagier, der in Kidron ausstieg. Er humpelte, weil ihm irgendwo in Idaho ein Bulle auf den Fuß getrampelt war. Er hatte sich nicht untersuchen lassen, war aber überzeugt, dass mindestens drei Zehen und möglicherweise eine Rippe gebrochen waren.
Weil er Schmerzen hatte, wollte sie ihn fest an sich drücken, um ihn zu trösten. Doch er stieß sie von sich und schnappte seine Reisetasche, die der Busfahrer eben aus dem Anhänger hervorgezogen hatte. Der Fahrer erwartete ein Trinkgeld, doch Carl ließ ihn abblitzen und lief schnurstracks auf den Wagen zu, den Deb auf der anderen Straßenseite abgestellt hatte. Also drückte sie dem Busfahrer einen Dollar in die Hand.
Beide hatten sich ihr Wiedersehen anders vorgestellt.
Im Bericht des Chronicle wurde Carls Schwester später mit den Worten zitiert, ihr Bruder sei ein sehr sturer Mensch gewesen. »Offen gesagt, wundert es mich bis heute, warum er geheiratet hat. Unsere Mutter riet ihm damals, es sich gut zu überlegen. Sie kannte ihn besser als alle anderen und wusste genau, dass er mit Familie nichts am Hut hatte. Er hat auch unsere Familie im Stich gelassen, als das mit den Wettkämpfen und den Rodeos losging.«
In der Todesnacht eröffnete er Deb, dass er bald wieder nach Idaho zurückfahren würde, um an weiteren Wettkämpfen teilzunehmen. Dann erzählte er, wie reizlos er Idaho finde und dass der Bus stundenlang an vertrockneten Feldern, staubigen Hügeln und grauen Häusern vorbeigefahren war. Wahrscheinlich sprachen sie leise, um die Kleine nicht zu wecken, die in ihrem Kämmerchen auf der Matratze lag und schlief.
Deb bemerkte, dass er für die nächste Reise mehr als gewöhnlich einpackte. Neben einer Jeans zum Wechseln und ein paar Unterhosen verstaute er auch seinen Glücksbringer – eine besondere Gürtelschnalle – und den silbernen Flachmann, den er vor Jahren von seinem Vater geschenkt bekommen hatte, in der Tasche. Sie erriet seinen heimlichen Plan, noch bevor er darüber mit ihr redete. Und das erinnerte sie an ihr eigenes kleines Geheimnis.
Vor einiger Zeit hatte sie die Waffe ihres Großvaters aus Hill House mitgenommen. An der Stelle fiel es Erin schwer, sich gute Gründe dafür zusammenzureimen. Vielleicht hatte Deb Angst, ihr Großvater könnte sich etwas antun, denn mit fortschreitender Demenz wurde er unberechenbar. Oder sie hatte die Waffe mitgenommen, weil sie sich damit in Mrs. Castellos Männerpension sicherer fühlte. Erin fragte sich auch manchmal, ob ihre Mutter vielleicht depressiv war und an Selbstmord gedacht hatte. Dass ihre Mutter sich die Waffe vorsätzlich für die Tat besorgt haben könnte, das allerdings wagte sie nicht zu denken.
Erin stellte sich vor, dass es in der Pension an diesem Abend muffig roch. Ganz bestimmt duftete es nicht nach Zitronen und Murphy-Seife wie in Annas gepflegtem Haus auf dem Hügel, sondern nach alten Männern, Elend, Armut und Leberwurst mit Zwiebeln, die sich die Alten gern mit aufs Zimmer nahmen. Und damit vermischte sich noch der Geruch von industriellem Reinigungsmittel.
Als ihr Vater schließlich mit der Wahrheit herausrückte und sagte, dass er Deb verlassen wollte, muss sie sich wie ein Stier beim Bulldogging gefühlt haben. Wie ein Bulle, der plötzlich bei den Hörnern gepackt und unvermittelt zur Strecke gebracht wird. Wie lange hatte es wohl gedauert, bis Carl den Satz ausgesprochen hatte? Eine Sekunde? Zwei? Bestimmt erinnerte sich Deb damals an Monkey Lip, den Carl in nur dreieinhalb Sekunden durch das schiere Gewicht seines Körpers niedergerungen und auf die Seite geworfen hatte.
Und gerade, als der Stier dachte, er hätte noch eine Chance, fasste ihm Carl noch an die Nüstern. Vielleicht stach er extra hinein, um ihn ein bisschen zu quälen, während sich beide im Staub wälzten. Deb hatte noch nicht genug Lebenserfahrung, um zu wissen, dass ein Stier einen Menschen locker abschütteln, wieder auf die Beine kommen und davontraben kann, als sei nichts geschehen.
Und dann war da noch die Tatsache, dass sie sich die Waffe besorgt hatte. Lange bevor Carl ihr eröffnete, dass er sie verlassen wollte und mit anderen Frauen schlief, Frauen wie sie, die zusahen, wie er Bullen niederrang, und die sich nichts
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