Der Olivenhain
sehnlicher wünschten, als selbst von ihm niedergerungen zu werden.
»Sie nahm sie zu ihrer eigenen Sicherheit an sich.« Damit rechtfertigte Bets damals vor Reportern Debs Bitte, ihr Franks Waffe zu geben, die sie der Enkelin in die Hand drückte, kurz bevor sie zur Pension zurückfuhr. Carl sei unberechenbar geworden, hatte Bets erklärt. Er trank zu viel und bekam aus heiterem Himmel Tobsuchtsanfälle. Auch die ihrer Meinung nach zwielichtigen Gestalten in Mrs. Castellos Wohnheim ließ Bets nicht unerwähnt und die vielen Drogen und Huren. Sie wollte nur, dass ihre Enkelin und Urenkelin dem Gesindel nicht schutzlos ausgeliefert waren.
Carls Schwester Lorraine sah das natürlich ganz anders. Während Debs Anwalt die Ausschussmitglieder bat, Bets’ damalige Aussage bei ihrer Entscheidung zu berücksichtigen, hörte Erin deutlich, wie Lorraine gallig zischte: »Das haben die sich doch hinterher zurechtgelegt. Ich war echt überrascht, dass die Geschworenen das geglaubt haben. Aber der Richter hat es ihr nicht abgenommen, sonst hätte er nicht lebenslang verhängt, sondern höchstens sieben Jahre für Totschlag. Das war kein Unfall, das war Vorsatz!«
Erin hingegen versuchte sich einzureden, dass das ganze Unglück tatsächlich ein Unfall war. Doch das machte die Sache nicht leichter, denn eigentlich war ihre Zeugung der Unfall, der all die anderen Fehltritte und Fehlschläge nach sich gezogen hatte. Die Schrift ihrer Mutter hatte sich genau in dem Augenblick verändert, als sie Erin in sich spürte.
Sechs Schüsse.
»Du musst hierbleiben!«, hatte Deb vielleicht gerufen und ihn am Kragen gepackt oder ihm die Tasche entrissen und wieder ausgeleert.
Die genauen Einzelheiten variierten mit jeder neuen Version. Doch manche Details, die im Gerichtsverfahren ans Licht kamen, blendete Erin einfach aus. Ihr Vater hatte ihre Mutter nie geschlagen. Niemand hatte sie je geschlagen. Es gab keinen Bösewicht in der Geschichte, nur unglückliche Umstände, Wut und Unbeherrschtheit. Sie schüttelte den Kopf, presste die Hände fest auf die Ohren und wollte nicht zuhören, wie Ms. Rivera gerade die sechs Patronenhülsen am Tatort und die riesige Blutlache auf dem Boden beschrieb. Erin schloss die Augen und erinnerte sich an den Abend aus ihrer Sicht, obwohl sie nebenan mit Regina Regenbogen im Arm fest geschlafen hatte.
Erin hatte noch eine weitere Version auf Lager. Eine detailliertere Fassung, in der die Schuld gleichermaßen auf beide Eltern verteilt war. Das Bier war alle. Carl war zum nächsten Laden gelaufen, der noch geöffnet hatte, und in der Zwischenzeit hatte Deb die Reisetasche ihres Mannes durchsucht. Sie fand einen Schlüpfer, der ihr nicht gehörte, vielleicht Lippenstiftspuren auf den Hosenknöpfen seiner Jeans.
Genau in dem Augenblick kam Carl fröhlich pfeifend mit dem Bier zurück. Erin wusste noch, dass ihr Vater immer vor sich hin gepfiffen hatte, entweder Buffalo Girls oder die Titelmelodie des Westerns Mein großer Freund Shane . Dass die Melodie aus einem Film war, wurde ihr aber erst später bewusst, als sie den Streifen zusammen mit dem ersten Jungen, den sie küsste, im Fernsehen sah. Sie brach damals in Tränen aus und konnte sich nicht mehr beruhigen. Nach diesem Vorfall konnte sie den Jungen nicht mehr treffen und ließ sich verleugnen, wenn er anrief.
»Warum musst du gleich mit ihnen schlafen? Warum kannst du dich nicht einfach auf die Wange küssen lassen, ihnen zuzwinkern und dann zu uns zurückkommen?«, hatte Deb gebrüllt. So gut kannte Erin ihre Mutter. Keine der Frauen, mit denen sie aufwuchs, war in der Lage, ruhig und vernünftig zu argumentieren. Stattdessen brachen immer angestaute Wut und hitzige Schuldzuweisungen aus ihnen heraus.
»Lass gut sein. Wir haben schon genug Probleme, du und ich. Bring jetzt nicht auch noch ins Spiel, was ich mache, wenn ich weg bin.« Erin stellte sich ihren Vater als einen dieser austauschbaren Westernhelden vor, deshalb musste er auch so abgehackt reden wie sie. Als sei die Anzahl der Silben pro Mann streng rationiert.
»Ich werde nicht mit dir schlafen, vergiss es! Nachdem du deinen Schwanz in sämtlichen Kneipen Idahos spazieren geführt hast.«
»In Idaho gibt’s kaum Kneipen. Guten Whiskey schenken sie dort nur in der Scheune eines Kumpels aus. Kann ich was dafür, dass da auch Weiber rumlungern?«
»Du musst dich endlich entscheiden. Keine Wettkämpfe mehr.«
»Zwing mich zu bleiben, und ich bin weg. Mich hält hier sowieso nicht viel.«
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