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Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Miller Santo
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Gutachten aufzuschlagen, versuchte Erin, die schrecklichen Erinnerungen auszuklammern und sich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Sie ging davon aus, dass Debs Anwalt bereits auf ihre vorbildliche Führung hingewiesen hatte, und wusste, dass er das Gutachten gleich zurückweisen würde, das Deb als Borderline-Persönlichkeit darstellte. Er hatte zwei Gegengutachten anfertigen lassen, die Deb zwar attestierten, dass sie ihre Affekte nicht unter Kontrolle hatte, sie jedoch keinesfalls für unzurechnungsfähig erklärten. Unzurechnungsfähigkeit war nur in Kinofilmen die letzte Rettung, in einem echten Verfahren kam diese Diagnose einem Todesstoß gleich.
    »Bist du bereit?« Bets knispelte nervös an ihrem hellbeigen Nagellack herum. In den Wochen vor dem Termin hatte sie immer wieder gefragt, ob es von Rechts wegen wirklich gestattet sei, dass Erin bei der Verhandlung für ihre Mutter Partei ergriff. Sie willigte erst ein mitzukommen, nachdem Debs Anwalt eine Kopie des entsprechenden Paragraphen übersandt hatte, in dem ausdrücklich bestätigt wurde, dass die nächsten Verwandten der Opfer ein Recht auf Anhörung hatten, unabhängig vom Inhalt ihrer Rede.
    »Ich hoffe nur, dass ich das letzte Wort behalte, nicht Carls Mutter. Das wäre nicht fair.«
    »Ich wette, dasselbe denken die jetzt auch«, sagte Anna laut und wurde deshalb vom Wachmann angezischt. Kurz darauf ging der Ausschuss zur Stellungnahme der Angehörigen über.
    Erin erhob sich mühsam von ihrem Stuhl, dehnte den Rücken und streckte dabei ihren Bauch heraus. Dann suchte sie mit den Händen Halt an den Stuhllehnen. Ihr war bewusst, dass sie wirkte, als stehe sie kurz vor der Entbindung.
    »Sie dürfen gerne sitzen bleiben«, sagte der Blonde, und Erin fühlte sich einen Moment lang sehr zu ihm hingezogen.
    Sie schüttelte den Kopf. »Was ich zu sagen habe, muss ich im Stehen sagen. Es ist nicht leicht, Sie zu bitten, meiner Mutter die Möglichkeit zu geben, endlich nach Hause zu kommen. Das kann ich nur machen, wenn ich Ihnen dabei in die Augen blicke.« Ihre Stimme war fest, doch sie sprach die Vokale weich aus, sodass die Worte durch den Raum fließen und sich in den Ohren der Zuhörer festsetzen konnten.
    Sie hatte im Sprech- und Gesangsunterricht jahrelang geübt, so zu sprechen und zu singen, dass sich die Stimmung der Zuhörenden veränderte. Früher, bevor es Fernsehen und Kinos gab, hatten sich die Menschen allein durch die geschulte Stimme eines guten Erzählers zu heftigen Gefühlsregungen hinreißen lassen, jedenfalls hatte ihr das ihre Sprechlehrerin erklärt. Es war eine große Gabe, Menschen auf sich einzuschwören. Eine Gabe, die vor allem Prediger und Diktatoren für sich nutzten, und natürlich Schauspieler, besonders Shakespeare-Darsteller. Wenn große Künstler diese Technik in einer Puccini-Oper oder einem Beckett-Stück anwandten, war es dem Publikum überhaupt nicht bewusst – und wirkte genau deshalb.
    Nach all den Jahren der Ausbildung wusste Erin natürlich, wie man diese Modulierungen gezielt einsetzte, um die Zuhörer allein durch Tempo und Tonfall in eine bestimmte Richtung zu lenken. Mit Musik ließ sich das noch besser erreichen, denn bestimmte Klangfolgen und Dissonanzen wirkten stärker auf die menschliche Seele als ein Pendel bei der Hypnose. Doch auch mit Worten konnte man große Wirkung erzielen. Es war schwieriger, aber durchaus möglich. Pfarrer – Männer in der Regel – rhythmisierten ihre Sprechweise oft so lange, bis sie nur noch »Springt!« rufen mussten, und die Herde folgte. Erin hatte die Sprechweise von weiblichen Rednerinnen ebenfalls studiert und herausgefunden, wie sie das volle Potenzial ihrer Stimme benutzten. Meistens artikulierten sie die Vokale weicher und setzten ihre Stimmen raumgreifend und fesselnd ein, sodass keiner ihnen entkommen konnte. Anscheinend waren stimmlich versierte Frauen besser darin, anderen Menschen Geld aus der Tasche zu ziehen, Männer hingegen konnten mit ihren Stimmen eher Gefügigkeit erzwingen. Erin wollte Letzteres.
    »Ich bin ein Mädchen ohne Vater, ein Mädchen ohne Mutter. Ich bin eine Waise, aber wie Annie in dem Musical trage auch ich die Hoffnung im Herzen, meine Mutter eines Tages wiederzubekommen, meinen Kopf in ihren Schoß zu legen und zu spüren, wie sie mir zärtlich übers Haare streicht und flüstert: ›Alles wird gut.‹
    Doch anders als Annie besitze ich weder einen Glücksbringer noch einen Brief, der mir verspricht, dass meine Eltern eines Tages

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