Der Olivenhain
lieber Klartext.«
Ms. Holt beugte sich weit über den Tisch, und ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Das wollen Sie doch auch, nicht wahr? Sie müssen lernen, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass Carls Tod kein Unfall war. Wer nämlich ohne böse Absicht, sozusagen zufällig, ein Verbrechen begeht, der wird schnell rehabilitiert. Bei solchen Menschen muss man nicht erst zäh in der Vergangenheit wühlen und Kindheitstraumata oder Verlustängste ans Licht zerren. Aber bei Ihnen war das kein Ausrutscher. Also müssen wir schleunigst in Ordnung bringen, was in Ihrer Familie schiefläuft, um zu verhindern, dass Sie noch einmal in den Knast wandern.«
Deborah wollte widersprechen, doch im Gefängnis hatte sie gelernt, dass es manchmal besser war, den Mund zu halten und Widerspruch für sich zu behalten.
Ihre Eltern hatten den Pit Stop Ende der Sechzigerjahre eröffnet, als die Autobahn gerade fertiggestellt worden war. Zu Beginn war es ein Restaurant, und sie warben mit dem Spruch: »Garantiert alles mit Oliven!« Anscheinend gab es damals wirklich Jugendliche, die Olivenbier bestellten oder Sandwiches mit Oliven und Erdnussbutter. Ihre Mutter hatte stets über die Verschwendung gejammert, weil die Oliven am Ende doch immer herausgepickt wurden. Doch ihr Vater hatte nur gelacht und gemeint, man müsse im Leben auch mal etwas Neues probieren, auch wenn es dann vielleicht nichts wurde.
Aber nach dem Tod von Deborahs Vater 1978 fing Callie an, allerlei Kitsch und Geschenkartikel zu verhökern: Olivenschalen, Löffel aus Olivenholz, Oliven-Poster, Aufkleber, bis wirklich jede Ecke des über 100 Quadratmeter großen Geschäfts mit Olivenprodukten vollgestopft war. Die riesige Leuchtreklame auf dem Parkplatz war von der Autobahn aus weithin sichtbar und sagte alles:
Der Oliven Pit Stop! * Gratisverkostung *
Regionaler Anbau * Das besondere Geschenk
Deborah hätte gerne hinten im Lager gearbeitet, doch ihre Mutter stellte sie hinter die Verkostungstheke, wo Deborah zum letzten Mal gestanden hatte, als sie auf der Highschool war. Damals war es genau das, was sie wollte, denn die Theke war mitten im Raum auf einem Podest platziert, und über ihr leuchtete eine Tafel, die in großen grünen Lettern warb: »Probieren Sie hier und jetzt!« Ein blinkender Pfeil zeigte direkt auf sie hinunter. Als junges Mädchen fand sie es aufregend, im Rampenlicht zu stehen und alle Blicke auf sich zu ziehen, doch nach zwanzig Jahren unter Dauerbeobachtung machte ihr das keine Freude mehr.
»Hör auf, dich dauernd zu kratzen«, schimpfte ihre Mutter, die plötzlich hinter ihr aufgetaucht war.
»Mach ich doch gar nicht.«
»Niemand möchte Oliven essen, auf denen deine Hautschuppen kleben.« Deborah rieb ihr Handgelenk. »Die Oliven mit Blauschimmelkäse sind alle.«
»Siehst du, schon wieder hast du dich gekratzt.«
»Es ist doch niemand hier.« Deborah zeigte in den leeren Raum. Nancy, die seit Deborahs Verurteilung an der Kasse arbeitete, blickte prüfend über den Brillenrand zu ihnen hinüber.
Ihre Mutter lehnte sich schwer gegen die Theke, um ihr krankes Bein zu entlasten. »Der Bus aus dem Casino wird jede Minute hier sein.«
»Dann sollten wir noch rasch aufstocken. Ich hole noch ein paar Gläser Oliven aus dem Lager.«
»Nein! Wir haben mittlerweile ein elektronisches Inventursystem, da kann man nicht einfach etwas aus dem Lager holen. Hier hat sich viel verändert, seit du weg warst.«
Deborah konnte das nur bestätigen. Sie nickte nachdrücklich, während sie zusah, wie ihre Mutter ihr Röhrchen aus der Tasche zog und zwei Tabletten herausschüttelte. Ohne Aufforderung reichte ihr Deborah einen Becher Wasser.
»Sie sind da!«, rief Nancy. »Sie sind so langsam wie immer, aber sie sind schon ausgestiegen.«
Deborah wollte gerade fragen, wie sie die Bestände denn nun auffüllen sollte, doch da nahm Callie ihre Hand und sagte: »Tut mir leid, dass ich dich eben so angefallen habe. Du brauchst natürlich Zeit zum Eingewöhnen. Nach all den Jahren ist es einfach seltsam, dich hier an der Theke …«
Ein ohrenbetäubendes Klirren unterbrach sie mitten im Satz. Einer der Senioren hatte das Gleichgewicht verloren und dabei ein Zwei-Liter-Glas Oliven mit Knoblauchfüllung zerschmettert. »Ruf Roberto und Pedro!«, rief Callie zu Nancy hinüber. Plötzlich erfüllte emsige Geschäftigkeit den Raum. Die beiden Brüder kümmerten sich um die Pfütze und kehrten Scherben, Lake und Oliven in einen Eimer. Obwohl
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