Der Olivenhain
genommen hatte, als gut für sie war. Sie kannte das schon aus Kindertagen. Als ihr Vater noch lebte, hatte der dafür gesorgt, dass sie nicht zu viele Pillen schluckte. An Tagen wie heute hatte er sie nach Hause geschickt und die Schuld aufs feuchte Wetter geschoben, das ihr in die Gelenke gefahren war. Doch Deborah hatte in Chowchilla genug Drogen- und Tablettenabhängige gesehen, um zu wissen, was mit Callie los war.
»Denkst du nicht auch manchmal, das Leben ist dir noch was schuldig? Ich meine, der Flugzeugabsturz, Daddys Schlaganfall, dann das, was ich getan habe?«
Deborahs spitzer Tonfall sorgte dafür, dass Callie sich konzentrierte. »Egal, wie hart dein Leben ist, es wird nicht besser dadurch, dass du dir mehr Oliven schnappst, als dir zustehen.«
»Es summiert sich«, murmelte Deborah.
Callie nahm sie in ihre Arme. »Ach, meine Kleine! Du denkst immer, es muss gerecht zugehen auf der Welt, und die Rechnung muss aufgehen. Aber das tut sie nicht, so funktioniert es nicht.«
Deborah befreite sich aus der Umarmung ihrer Mutter. Sie kannte Callies Ton noch aus ihrer Kindheit. In ihm klang durch, dass Callie immer den Kürzeren gegen ihre Brüder gezogen hatte und dass man das Gute und Schlechte, das einem im Leben widerfuhr, nicht gegeneinander aufwiegen durfte. »Es kann aber nicht sein, dass ich immer den Kürzeren ziehe«, sagte Deborah.
Callie runzelte die Stirn und sah nachdenklich auf ihr Bein. »Wir alle ziehen manchmal den Kürzeren, mein Schatz. Das musst du lernen.«
4.
Familienbande
N a ch knapp zwei Wochen zu Hause gestand Deborah der Bewährungshelferin, dass sie ihre Ersatzfamilie im Gefängnis vermisste. »Das passiert oft«, sagte Ms. Holt und wühlte in einem Stapel Faltblätter. »Es gibt ein Merkblatt dazu. Oder stand das doch im Handbuch zur Resozialisierung?«
»Nicht, dass ich nicht froh wäre, wieder bei meiner Tochter zu sein«, sagte Deborah und nahm die Broschüre, die Ms. Holt ihr in die Hand drückte. »Aber weder sie noch die anderen in der Familie können wirklich verstehen, wie es mir all die Jahre im Knast ergangen ist.«
»Sie wünschen sich, dass man Sie versteht? Ist es das?«
»Nein, so meine ich das nicht.«
»Verstehen Sie denn, wie es Ihrer Tochter ergangen ist, nachdem Sie ihren Daddy erschossen haben?«
Ms. Holt nahm wirklich kein Blatt vor den Mund, dachte Deborah. Sie überflog die Broschüre und blieb an einem Foto hängen, auf dem eine lachende Frau in einer blauen Arbeitsschürze abgebildet war. »Sie sollen einfach nicht so viel Druck machen. LaJavia hat das verstanden.«
»Wer ist LaJavia?«, fragte Ms. Holt.
Deborah überhörte die Frage. »Gibt es keine Stiftungen oder dafür ausgebildete Betreuer, mit denen man mal reden könnte?«
»Wir sind hier nicht in der Bay Area, bei uns ist alles eine Nummer kleiner. In Tehama County gibt’s niemanden, der sein Geld für Kuschelecken spenden möchte, in denen sich Ex-Knackis mal so richtig aussprechen können. Sind Sie in einer Kirche? Dann fragen Sie doch mal den Pastor, vielleicht leiht der Ihnen ja sein Ohr.«
»Ich könnte doch Kontakt aufnehmen mit Frauen, die auch im Knast waren. Mit jemandem, den ich aus Chowchilla kenne.«
Ms. Holt schüttelte energisch den Kopf. »Das lassen Sie mal schön bleiben. Das sind Schwerverbrecherinnen. Es wäre der sicherste Weg, wieder auf die schiefe Bahn zu geraten. Drogen und der Umgang mit ehemaligen Straftätern sind die Hauptgründe, warum so viele rückfällig werden.«
»Also gibt es keinen, der mir hilft«, sagte Deborah.
Nach diesem Gespräch wartete sie vor dem kleinen Bürogebäude. Erin und Anna hatten sie vorher dort abgesetzt und waren weiter zu Wal-Mart gefahren, um Babysachen zu kaufen. Sie dachte an Ms. Holts Worte und überlegte, wo sie einen Pastor auftreiben sollte. Ihre Mutter ging seit ihrem Unfall nicht mehr in die Kirche und verwies lakonisch darauf, dass sie, als sie fast gestorben wäre, nirgends ein Licht gesehen habe. Bets und Anna besuchten regelmäßig die evangelische Kirche von Mount Olive. Der Pastor dort war zwar taub, aber gerade deshalb ein geduldiger Zuhörer. Seine Ratschläge beschränkten sich allerdings darauf, Gott einfach nur zu vertrauen. Annas Glaube beruhte allein auf diesem Leitsatz.
Deborah war sich nicht sicher, wie sie zu Gott stand. Bevor sie ins Gefängnis kam, hatte sie sich wenig um seine Existenz geschert. Durch ihre Ersatzfamilie hatte sie in Chowchilla gelernt, ihm wenigstens durch Lippenbekenntnisse
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