Der Olivenhain
Wasserspiegel stark angestiegen, und die Strömung erzeugte heftige Strudel. Die unruhige Oberfläche machte es schier unmöglich, einen Stein richtig springen zu lassen, sodass Deborah bald aufgab. Doch Erin versuchte es weiter. Immer näher rückte sie dem Ufer auf der Suche nach flachen Steinen. Vor jedem neuen Versuch drehte sie sich zu ihrer Mutter um, und ihre ernsten hellgrauen Augen forderten sie stumm auf, genau hinzusehen.
Deborah gab ihr Tipps, wie sie den Stein halten oder werfen sollte. Als Deborah schließlich keine Lust mehr hatte und gehen wollte, beruhigte sich die Wasseroberfläche für einen Augenblick, und Erin konnte ihren letzten Stein tatsächlich hüpfen lassen. Er sprang fast ein halbes Dutzend Mal übers Wasser, bevor er in den Fluten versank. Mutter und Tochter jubelten, sprangen herum wie die Verrückten und fielen sich in die Arme vor Aufregung und Glück.
So ähnlich hatte sich Deborah ihr Wiedersehen heute Morgen vorgestellt. Sie löffelte den letzten Rest Eintopf und nickte ernst, während Erin versuchte, das Gefühl der Leere zu beschreiben, unter dem sie als Kind ohne Mutter immer gelitten hatte und das nun durch ihre Schwangerschaft verstärkt wurde. Ganz gleich, wie liebevoll die Großmütter sie auch umsorgten, die leibliche Mutter konnten sie nicht ersetzen. Und das stürzte sie jetzt, da sie selbst Mutter wurde, in tiefe Verwirrung und ließ Gefühle in ihr aufkommen, mit denen sie nicht umgehen konnte.
Deborah tätschelte Erins Knie. »Denk immer daran, dass ich deine Mutter bin, ganz egal, was passiert ist oder noch passieren wird. Ich bin und bleibe deine Mutter.«
»Verstehst du mich denn?«, fragte Erin.
Deborah nickte, weil ihr nichts anderes übrig blieb.
»Huh«, stöhnte Erin. »Das Baby tritt mir gerade gegen die Rippen.«
»Lass mal sehen!«
Erins T-Shirt spannte über dem dicken Bauch, und bei jedem Tritt sah Deborah, wie der Stoff sich bewegte. Erin zog das T-Shirt hoch, und sie warteten gespannt. Wie mit dunkler Tusche gemalt zog sich eine blaurote Linie vom Schambein bis hinauf zum Nabel, die den Unterleib sauber in zwei Halbkugeln teilte. So rasch wie das Aufleuchten eines Blitzes war der Abdruck des kleinen Fußes auch wieder verschwunden.
»O nein!« Tränen der Rührung schossen Deborah in die Augen. Sie blinzelte heftig und tat, als müsste sie ein Niesen unterdrücken. Dann saßen beide ganz still da, und Deborah lauschte dem Herzschlag ihrer Tochter und dem ihres Enkelkindes. Sie wünschte sich, die Nabelschnur zwischen Erin und ihr wäre nie durchtrennt worden.
3.
Eine vorbildliche Bürgerin
D e r Bewährungshelferin zufolge brauchte Deborah jetzt vor allem zwei Dinge: eine Wohnung und einen Job. Ms. Holt hatte dunkle Haare, einen kleinen ordentlichen Dutt, volle Lippen, und in ihrem gedehnten Tonfall schwang ein Hauch von Südstaaten mit, was Deborah sofort beruhigte.
»Wissen Sie, ich mache den Job schon seit dreißig Jahren«, erklärte ihr Ms. Holt beim ersten Treffen, »und ich habe die geringste Rückfallquote in ganz Kalifornien. Manche Kollegen behaupten, es läge daran, dass ich eine Frau bin oder dass es in Tehama County ohnehin nicht so viele Straftäter gibt. Aber ich verspreche Ihnen: Wenn Sie erst mal einen Job und eine Wohnung haben, dann geht’s bergauf.«
Die Sache mit der Wohnung war schnell geregelt. Deborah bezog Wealthys früheres Zimmer in Hill House. Die beiden Fenster nach Osten und Süden ließen viel Licht herein, aber trotzdem hatte es lange leer gestanden, denn es war nicht gerade geräumig und nur mit einem eisernen Bett und einem ausladenden Kommodenschrank aus Olivenholz möbliert. Bets wollte ihr neue Vorhänge nähen, doch Deborah mochte die alten mit dem verwaschenen Cowboy-und-Indianer-Muster lieber. Damit sie sich auch tagsüber zurückziehen konnte, trug sie einen Schaukelstuhl von der Veranda in ihr neues Zimmer und beschlagnahmte die rosarote Badematte als Bettvorleger.
Der Job war ein größeres Problem. Ihre Mutter hatte vorgeschlagen, sie im Pit Stop anzustellen, doch ihr Verhältnis blieb sehr angespannt. Mehr als höfliche Floskeln morgens und abends tauschten sie meistens nicht aus. Bei ihrem zweiten Termin fegte Ms. Holt Deborahs Bedenken, für ihre Mutter zu arbeiten, mit einer kategorischen Handbewegung vom Tisch. »Wollen Sie wissen, warum ich so erfolgreich bin? Ich bin eine gute Psychologin. Nicht einer von diesen windelweichen Seelenklempnern. Nein, ich beschönige nichts, sondern rede
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