Der Olivenhain
zu huldigen. Denn die Aufseher hörten das gern und ließen die Frommen in Ruhe, weil sie glaubten, dass sie wenigstens noch ein bisschen Anstand hatten. Auch vor dem Bewährungsausschuss kam es gut an, wenn man sich gläubig zeigte, denn das hieß, dass man seine Taten bereute.
Als sie damals ihre Strafe antrat, wurde noch von allen Insassen erwartet, dass sie den Gottesdienst am Sonntag besuchten. Man warf sich in Schale, trug hübsche Kleider und Nylonstrümpfe, und sogar Modeschmuck, Make-up und Haarspray waren erlaubt. Wenn sich dann sonntags alle auf schäbigen Klappstühlen im Aufenthaltsraum von Block B versammelt hatten, unterschied sie kaum noch etwas von einer Gemeinde draußen.
Das waren die guten Zeiten in Chowchilla. So zumindest nannten die Alteingesessenen die Jahre, in denen die Zellen nicht überbelegt waren und die Aufseher Inhaftierte nicht wie Kriminelle, sondern eher wie Schüler behandelten. All das sollte sich bald ändern, doch in den ersten Jahren hielt sich Deborah weitgehend fern von den anderen, weil sie hoffte, noch vor ihrem dreißigsten Geburtstag freizukommen. Sie glaubte damals fest, dass sie das Unheil, das sie über ihre Familie gebracht hatte, wiedergutmachen könnte.
Nach zehn Jahren Haft wurde 1996 ihr erster Antrag auf Bewährung abgelehnt, grell orangefarbene Overalls als Einheitskleidung eingeführt und Stacheldraht auf dem Maschendrahtzaun angebracht. Jede Woche kamen neue Insassen hinzu, und mit jedem Neuzugang wurde der Freiraum beschnitten, der es Deborah bis dahin erlaubt hatte, sich bereits mit einem Bein in Freiheit zu wähnen. Im selben Jahr fing Erin an, sie regelmäßig zu besuchen, was ihre Stimmung einerseits zwar aufhellte, doch die wenigen Stunden mit ihr konnten Deborah nie wirklich befriedigen. Nach Erins Besuchen war sie dann immer auf der Suche nach jemandem, den sie bemuttern konnte – jemand der all das annehmen würde, was sie Erin nicht geben konnte.
Die meiste Zeit lebte Deborah in Block B, der aus vier Flügeln zu je acht Räumen bestand. Man versuchte zwar, die Rassen zu mischen, aber das ging nicht immer auf. Als LaJavia zu ihr verlegt wurde, teilte sie ihre Zelle bereits mit zwei Latinas, die kaum Englisch sprachen, und vier Schwarzen. Sie war damals schon lange genug im Knast, um zu wissen, dass die Hautfarbe keine Rolle spielte. Dennoch war sie froh, dass der Neuzugang keine Weiße war, denn Frauen, die in einem weißen Viertel aufgewachsen waren, machten viel zu viel Aufhebens um die Hautfarbe.
Zwischen LaJavia und ihr entwickelte sich ein enges Verhältnis. Die meisten Beziehungen im Knast waren ein Abbild der Familienkonstellationen draußen. Sowohl Deb als auch LaJavia füllten eine Leerstelle und bezeichneten sich als Mutter und Tochter. Alles schien so einfach, bis ihre Beziehung durch die echten Angehörigen gestört wurde.
An die Zeit kurz vor ihrer Entlassung erinnerte sich Deborah nicht gerne, weil sie Schuldgefühle in ihr wachrief. Ähnlich wie bei jemandem, der im Bus den Blick senkt, um seinen Sitzplatz nicht für einen behinderten Menschen aufgeben zu müssen.
Am Tag nach der Anhörung wollten die anderen mit ihr feiern. Deborah war in Block B zurückgebracht worden, der Wachmann zählte die Anwesenden durch und setzte seine Runde fort. Ihre Zellengenossinnen belagerten sie und wollten alles genau wissen. LaJavias Augen erinnerten sie plötzlich an Erin. Die junge Frau brachte die aufgeregte Truppe zum Schweigen und holte eine Flasche Cider aus dem Schrank, den sie dort seit Silvester gebunkert hatte.
»Auf die beste Mutter, die ich je hatte!«, rief sie und erhob ihren Plastikbecher. »Ich werde mich hier ganz schön einsam fühlen ohne dich.«
Nach dem Umtrunk gingen alle zum Abendessen in den Speisesaal, nur LaJavia und Deborah blieben im Zimmer.
»Ist bei dir alles in Ordnung?«, fragte LaJavia – und nach einer kurzen Pause: »Und zwischen uns auch?«
Deborah lag auf ihrem Bett und hatte den Arm über die Augen gelegt. LaJavia spielte natürlich auf ihre Mutter-Tochter-Beziehung an. »Alles bestens. Es war nur merkwürdig, sie alle wiederzusehen. Ich fühle mich plötzlich alt.«
»Verstehe«, antwortete LaJavia und setzte sich auf das Bett gegenüber. »So geht’s mir auch immer, wenn ich meine Kleine sehe. Irgendwie kriegt man hier drin ein schräges Zeitgefühl, keine Ahnung, warum.«
Nach zwanzig Jahren in Chowchilla fühlte sich Deborah tatsächlich steinalt. Älter als ihre Mutter, älter als die Mutter
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