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Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Miller Santo
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gefiel es nicht, dass plötzlich ein Loblied auf ihre Mutter angestimmt wurde.
    Es erinnerte sie nur daran, dass ihre Mutter es keine Sekunde allein mit ihr in einem Raum aushielt. Nicht ein einziges Mal war sie in Chowchilla erschienen, und alle Karten, egal ob zum Geburtstag oder zu Weihnachten, waren zwanzig Jahre lang offenkundig von Bets gefälscht worden, die jedes Mal »Alles Liebe, Deine Mutter« in ihrer leicht zu erkennenden Handschrift daruntergeschrieben hatte.
    Der Hund schmiegte sich an Erins Hüfte, und Deborah merkte, dass Erin diesen Teil ihrer eigenen Geschichte überhaupt nicht kannte.
    »Und wo war Daddy?«, fragte sie.
    Plötzlich herrschte tiefes Schweigen auf der Veranda. Anna hustete, und das Knarren des Schaukelstuhls war das einzige Geräusch, das noch zu hören war. »Er war gerade von einem Rodeo zurückgekommen«, sagte Deborah dann in die Stille hinein. »Er hat sich schrecklich beeilt, um rechtzeitig ins Krankenhaus zu kommen, damit er dich als Erster in den Arm nehmen kann.«
    »Stimmt, das hatte ich ganz vergessen«, sagte Anna. »Du hast hartnäckig gewartet, bis er kommt, und sogar die Schwester angebrüllt, als sie Erin aus dem Bettchen hochnehmen wollte.«
    Die Überraschung gelang ihnen, doch Anna hatte recht gehabt: Erin war nicht begeistert darüber, alte Bekannte wiederzusehen. Wer in Kidron geblieben war, hatte in der Regel jung geheiratet und führte nun einen erbitterten Scheidungskrieg oder freute sich auf das dritte oder vierte Kind.
    Deborah suchte nach Anzeichen der Begeisterung in Erins Gesicht, weil sich alle so rührend um sie bemühten. Doch was sie sah, war Befremden und Verdruss. Sie hatte den Fehler so vieler Mütter gemacht, die glaubten, dass ihre eigenen Wünsche auch die ihrer Kinder waren.
    Erin bekam eine Menge Sachen für das Kind geschenkt, außerdem Musik-CDs und Notenblätter von einstigen Chor-Mitgliedern. Das einzige persönliche Geschenk machte ihr ein schweigsamer Mann, der mit einer der Chorsängerinnen verheiratet war. Schon auf der Highschool hatte er alle Schulveranstaltungen auf Video aufgenommen, und nun hatten er und seine Frau sich die Mühe gemacht, Erins Soloauftritte auf einer DVD zusammenzustellen.
    »Als ich mit dem ersten Kind schwanger war, haben wir auch eine DVD von meinen Auftritten gemacht. Ich dachte, die Kinder fänden es später spannend, wie ihre Eltern sich kennengelernt haben. Natürlich interessiert es sie nicht die Bohne; sie finden es todlangweilig.«
    Ihr Mann legte den Arm um die Hüften seiner Frau und sagte: »Es ist aber überhaupt nicht langweilig.«
    Nachdem die Gäste gegangen waren, versammelte sich die Familie am Küchentisch. Callie nahm sich noch ein Stück Blechkuchen und fragte: »Und wer räumt jetzt auf?«
    »Ich nicht«, sagte Erin und lehnte sich bequem zurück in ihren Stuhl, während sie die Stretchjeans herunterrollte. »Ich bin erledigt vom Feiern.«
    »Tut mir leid«, sagte Deborah. »Es hat dir keinen Spaß gemacht.«
    »Doch, es war wirklich nett. Ehrlich.« Erin stibitzte ein Stück Kuchenglasur.
    »Nimm noch ein Stück, es ist doch so viel übrig«, sagte Deborah. Erin hatte kaum einen Bissen gegessen. »Und was ist mit dir, Grandma?«
    Bets schob den Kuchenteller zurück in die Mitte. »Wenn du erst mal so alt bist wie ich, wirst du merken, dass nach dem ersten Bissen alles gleich schmeckt. Ich habe früher für mein Leben gern Steaks gegessen, nichts ging über ein gut abgehangenes Filetstück. Doch seit meinem achtzigsten Geburtstag meldet mir mein Hirn beim Anblick eines Steaks nur noch: ›O nein, nicht schon wieder dieses Zeug! Ich habe es dann eine Zeit lang noch mit ausgefallenen Gerichten probiert, doch es half nichts. Essen bereitet mir einfach keinen Spaß mehr.«
    Anna lachte laut auf. »Als es bei mir so weit war, habe ich es mit richtig scharfem Essen versucht. Doch das ist meinem Magen nicht bekommen.«
    »Was du nicht sagst«, brummte Deborah, wandte sich dann ihrer Tochter zu und fragte lautlos: Was ist denn?
    Erin schüttelte den Kopf. »Es war nur ein langer Tag, und seit dem Hamburger heute Mittag fühle ich mich total verstopft.«
    Sie plauderten über dieses und jenes, und während sie die Frauen ringsherum anschaute, wurde Deborah schlagartig klar, dass sie in ihre eigene Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft blickte. Sie hatte noch so viel Zeit und konnte selbst mit zweiundvierzig noch einmal eine Familie gründen oder aufs College gehen und sich selbstständig machen.

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