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Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Miller Santo
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Wieso fühlte sie sich in diesem verdammten Haus wie lebendig begraben? Hinter Gittern hatte sie keine Möglichkeit gehabt, sich zu entwickeln. Doch nun war sie frei, und die Welt stand ihr offen.
    Anna ging zur Toilette, und Callie sah kurz von ihrem dritten Stück Kuchen auf. Abwesend leckte sie die rosa und blau gefärbte Glasur von der Gabel und fixierte mit glasigen Augen eine Stelle an der Wand hinter Deborah. Die Leere in ihrem Blick schien sich auf den ganzen Raum zu übertragen.
    »Ich werde mal nach Mama sehen«, sagte Bets und stand vom Tisch auf.
    »Sie ist deprimiert«, sagte Erin, als Bets den Raum verlassen hatte.
    »Und unternimmt sie etwas dagegen?«, fragte Deborah und sah zu ihrer Mutter hinüber, um zu sehen, ob sie der Unterhaltung überhaupt folgte.
    »Du kennst sie doch, sie nimmt nicht einmal Aspirin. Es ist wegen Frank, glaube ich.«
    »Frank ist ein Dreckskerl«, zischte Deborah. Sie war nie mit ihm klargekommen. »Seitdem er den Verstand verloren hat, macht ihr einen Heiligen aus ihm. Aber ich weiß noch, wie er früher war. Er war fies und gemein zu mir, weil ich ihn daran erinnert habe, dass seine kleine Callie nun kein unschuldiges Ding mehr ist.«
    »Das siehst offenbar nur du so«, entgegnete Erin. »Du warst lange weg. Er ist anders geworden, du hast ihn nie im Altersheim erlebt.«
    Deborah hatte keine Lust, über ihren Großvater zu reden. »Hat es dir wenigstens ein bisschen gefallen heute? Die Vorbereitungen waren viel Arbeit.«
    »Du meinst wohl, du hast dir viel Arbeit gemacht?«, sagte Erin. Die schnörkellose Art, Dinge beim Namen zu nennen, hatte sie von Bets gelernt.
    Callie schnaubte. »Sie lässt sich nichts vormachen«, sagte sie, während sie weiterhin mit stierem Blick die Stelle über ihren Köpfen fixierte.
    Deborah überging diese Bemerkung und fragte Erin leise: »Hast du endlich mit dem Vater des Kindes geredet? Wird er bei der Geburt dabei sein?«
    »Die Party war scheiße«, sagte Erin, kratzte die Kuchenreste zusammen und warf sie beim Verlassen der Küche in den Mülleimer.
    »Sie hätte es sich auch nicht träumen lassen, dass sie so schnell wieder hier landet«, sagte Callie vom anderen Ende des Tisches. »Mir ging’s damals genauso, und nun hocken wir beide hier. Man kann Hill House und seinen Bewohnern offenbar nicht entgehen.«
    »Du hast ein echtes Problem, Mum. Halt die Klappe und lass mich in Ruhe.«
    »So kenne ich dich. Du warst schon immer gemein. Als Kind hast du wild um dich geschlagen, wenn du dich angegriffen fühltest. Mit acht hast du deinen Bruder die Treppe hinuntergestoßen, weil ich ihn für ein Bild lobte, das er vom Olivenhain gezeichnet hat. Sein Arm war mehrfach gebrochen. Tagelang hast du alles abgestritten und stur behauptet, er sei hinuntergefallen, obwohl wir gesehen hatten, dass du es warst. Als du es endlich zugeben konntest, sagtest du, ich sei schuld, weil ich dich nicht genug lieben würde.«
    »Halt den Mund, halt verdammt noch mal den Mund.« Deborah sprang auf und schob ihre Mutter mit dem Küchentisch gegen die Wand. »Du bist doch ein elender Tablettenjunkie! Hörst du mir überhaupt zu? Du bist tablettenabhängig! Diese Pillen vernebeln dein Hirn, denn nur so kannst du dein erbärmliches Leben halbwegs ertragen. Aber was hast du davon? Nichts! Überhaupt nichts!«
    »Ich krieg keine Luft mehr«, sagte Callie und versuchte, mit einer theatralischen Geste den Tisch wieder zurückzuschieben.
    Vom Lärm aufgeschreckt, standen plötzlich auch alle anderen in der Küche. Bets befreite Callie aus der Klemme, und Deborah wurde von ihrer Tochter von hinten überwältigt und ins Wohnzimmer verfrachtet. Anna betete mit dünner Stimme ein leises Vaterunser.
    »Du hast mich nie geliebt«, schrie Deborah aus dem Wohnzimmer, während Erin versuchte, sie aufs Sofa zu drücken. »Niemand hat mich je geliebt!«

6.
    Mutter und Kind
    D e r Vorfall wurde nie wieder erwähnt. Den ganzen April über begegnete man Deborah mit aufgesetzter Freundlichkeit. Sie sagte sich immer wieder, dass nur ihre Tochter Erin zählte. Unter normalen Umständen hätten Anna und Bets längst das Zeitliche gesegnet, die Beerdigung wäre gut besucht gewesen, und die Erinnerungen an sie wären bald zu harmlosen Anekdoten verblasst. Sprich niemals schlecht über die Toten .
    Sollte es eines Tages so kommen, würde die tiefe Kluft zwischen Deborah und ihrer Mutter eines Tages auch ihre Bedeutung verlieren. Viele Frauen hassten ihre Mütter. Aber Deborah wollte

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