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Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Miller Santo
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ihrer Mutter, und sogar älter als Anna, die mehr als ein Jahrhundert erlebt hatte. Sie konnte es nicht genau erklären.
    Sie versuchte, es LaJavia begreiflich zu machen. »Die Wissenschaftler haben keinen blassen Schimmer, was Zeit bedeutet«, sagte sie und sah zu LaJavia hinüber, die ihre Stirn in Falten gelegt hatte und große Augen machte. »Die behaupten einfach, ein Tag hat immer vierundzwanzig Stunden und eine Stunde sechzig Minuten. Dabei vergessen sie, dass die Zeit im Kopf anders funktioniert, zumindest bei Normalsterblichen.«
    »Ja, da geht’s durcheinander«, erwiderte LaJavia. »Meine Schwester sagt immer: Ein Tag ist lang, ein Jahr ist kurz.«
    »Ich hab´s rausgefunden. Das mit der Zeit ist seltsam. Je mehr sich in deinem Leben ereignet, je mehr Erfahrungen du machst, desto schneller läuft die Zeit. Dann schrumpfen Jahre zu Tagen und Tage zu Minuten.«
    LaJavia nickte, doch sie verstand kein Wort. Nicht, weil sie keinen Schulabschluss hatte, sondern weil sie noch nicht lange genug in Chowchilla war. Deborah verschwieg, dass die letzten zwanzig Jahre so ereignislos und leer gewesen waren und dass eine Stunde Kleider zusammenfalten im Knast einem gefühlten Jahr entsprach.
    Irgendwo hatte sie gelesen, dass ein Typ behauptete, Zeit und Temperatur hätten vieles gemeinsam. Denn die Einheit Grad maß nicht, wie warm die Luft war, sondern wie schnell sie sich bewegte. Deborah fand, dass ihr Leben in den letzten zwanzig Jahren kalt gewesen war und die Teilchen in der Luft sich gerade noch schnell genug bewegt hatten, um sie am Leben zu erhalten.
    Das hätte sie nun LaJavia gerne erzählt, doch sie hatte Angst, dass das alles nicht stimmte und dass sie nicht genug Durchblick hatte, um einer anderen diese These richtig zu erklären. LaJavia hatte noch einige Jahre vor sich, um das alles selbst herauszufinden.
    Wenn man Geld hatte und nicht gerade in einer Einzelzelle oder in Untersuchungshaft saß, glich das Leben im Gefängnis einem Rundgang durch den Supermarkt. In Chowchilla gab es nichts, was Deborah nicht bekommen konnte – außer ihrer Freiheit. In den Wochen vor ihrer Entlassung konnte sie an nichts anderes mehr denken. Am Morgen nach dem Umtrunk war LaJavia sehr gesprächig: »Wir müssen noch so viel erledigen, bevor du gehst.« Sie setzte sich breitbeinig auf die Bettkante, die Füße fest auf den nackten Betonboden der Zelle gestemmt. Dann kratzte sie sich am Kopf, und kleine weiße Schuppen rieselten auf ihre Wolldecke, die beim Aufstehen zu Boden geglitten war. »Du musst mir die Zöpfe noch neu flechten.«
    Ihre Haare waren unordentlich, etliche Zöpfchen hatten sich aufgelöst, und ihre Kopfhaut musste dringend eingeölt werden. LaJavia saß seit fast zehn Jahren in Chowchilla. Sie verbüßte eine Strafe wegen versuchten Mordes am Vater ihres Sohnes, den sie mit dem Pontiac ihrer Mutter hatte umnieten wollen. Er war seitdem an den Rollstuhl gefesselt. Der Staatsanwalt hatte ihr einen Handel angeboten, und so musste sie nur zwölf Jahre absitzen.
    »Louisa kann das in Zukunft machen«, sagte Deborah. Es tat ihr zwar weh, doch LaJavia musste sich nun eine neue Knastmutter suchen.
    »Nee, die ist stinksauer auf uns, weil wir so gut mit Nella können. Hast du nicht gemerkt, dass sie uns in letzter Zeit mit Schweigen straft?«
    Deborah antwortete nichts, solche Gespräche langweilten sie.
    »Hab mir schon gedacht, dass dir das alles jetzt egal ist. Du wartest nur noch auf die Post und isst kaum mehr etwas. Deine Mum wird dich nicht mehr wiedererkennen, wenn sie dich abholen kommt.«
    »Meine Mum kommt bestimmt nicht. Seit Carls Tod haben wir kein Wort mehr miteinander geredet«, sagte Deborah. »Aber bald werde ich mein Enkelkind kennenlernen.«
    »Ich war wirklich froh, dass meine Mutter bei der Geburt meines ersten Kinds dabei war. Das wirkt beruhigender als jedes Medikament. Niemand kann das ersetzen, schon gar nicht der Vater, der auf einer Entbindungsstation sowieso nichts zu suchen hat.«
    Deborah hörte LaJavias Gequassel nicht mehr zu. Sie hatte deshalb Gewissensbisse, doch seit sie ihre leibliche Tochter wiedergesehen hatte, waren ihre Gefühle für LaJavia abgekühlt. Eine Gefängnisfamilie war eben nur ein Ersatz für die echte, das war allen Frauen bewusst. An den Besuchstagen merkten sie, dass ihre Umarmungen mit den leiblichen Müttern und Großmüttern inniger waren als ihre Gesten der Zuneigung füreinander.
    Trotzdem hatte Deborah niemanden in Chowchilla so nah an sich

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