Der Olivenhain
murmelte sie.
2.
Quellen
G l aubst du an Wunder?«, fragte Calliope am nächsten Morgen.
»Glauben kann man an alles«, erwiderte Anna trocken. Sie stand auf, dehnte sich und machte dann eine Vorwärtsbeuge, wobei sie mühelos die Zehen mit den Händen berührte. »Eigentlich käme jetzt noch ein Spagat, aber meine Blase ist nicht mehr das, was sie noch mit hundert war.«
Erin lachte, und als das Baby die Stimme seiner Mutter hörte, versuchte es sofort, sie nachzuahmen. Bobo kläffte munter im Chor mit.
»Das ist ja ein Riesenzirkus hier«, murrte Calliope und wand sich ungemütlich auf dem Sofa. Bets saß neben ihr und legte ihr entgegen ihrer Gewohnheit den Arm um die Schulter. Fast wäre Calliope wie ein kleines Kind in Bets’ Schoß gesunken, weil die weichen Polster so sehr nachgaben.
»Man fühlt sich wieder ganz wie zu Hause«, sagte Bets.
Calliope ließ sich von der Liebe ihrer Mutter einhüllen. Es war ein seltener Moment der Zuneigung nach all den Jahren der Entfremdung. Auf einmal kam ihr Hill House tatsächlich wie ihr Zuhause vor. Seit ein paar Wochen glaubte sie wieder an Wunder. Annas plötzlicher Ruhm rettete nicht nur das Geschäft, sondern würde auch Amrit bald nach Kidron zurückbringen. Zum ersten Mal hatte Calliope das Gefühl, alles könnte sich zum Guten wenden.
»Ich möchte euch etwas zeigen«, sagte sie und schob sich vom Sofa.
»Sag bloß, du willst uns jetzt einen Spagat vorführen!«, stöhnte Erin. »Ich bin noch in der Rekonvaleszenzphase und möchte keine hyperaktiven alten Damen um mich herumturnen sehen.«
»Hier ist niemand alt«, rief Bets. »Außer Anna!«
Das wiehernde Gelächter hallte noch im Flur nach, als Calliope auf ihr Zimmer ging. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass ihre Mutter je so ausgelassen gewesen war. Auf dem Nachttisch neben ihrem Bett stand eine hübsch verpackte Flasche Öl. Sie war gespannt, was die anderen dazu sagen würden. Als sie die Zimmertür hinter sich zuzog, klopfte sie abergläubisch auf Holz. Nur nicht zu viel erwarten , dachte sie. Die anderen kicherten immer noch, als sie ins Wohnzimmer zurückkam. Die fröhliche Stimmung war ansteckend.
»Schau her!«, rief sie Erin zu und ging in einen vollendeten Spagat.
»Tja, ein Cheerleader bleibt eben ein Cheerleader«, sagte sie.
»Was ist das?« Anna zeigte auf die Flasche. »Champagner?«
»Nein, das ist dein Öl«, erwiderte Calliope und überreichte es ihr feierlich.
»Mein Öl?« Anna zog die Schleife der Verpackung auf.
Wie Anna faszinierte sie das Thema Langlebigkeit, aber anders als Anna suchte sie nach Erklärungen. Es musste einen Grund geben, warum Anna in ihrem biblischen Alter noch so gut hörte, so gelenkig war und sogar ihre Augen scharf genug sahen, um die Zeitungsüberschriften ohne Brille zu lesen. »Ich weiß, dass du nach der Ernte immer die letzten Oliven von den Bäumen pflückst und daraus Öl für den Hausgebrauch machst. Ich dachte mir immer, da muss etwas dran sein, auch wenn du es nicht glaubst.«
»Das ist doch bloß eine Marotte«, entgegnete Anna.
»Aber diese Marotte hält dich offenbar jung«, sagte Calliope.
»Ich bin nichts Besonderes«, erwiderte Anna und zog die Flasche aus der Packung.
»Doch, unsere Familie ist wirklich etwas ganz Besonderes!« Alle Augenpaare richteten sich auf Calliope. Die erwartungsvollen Blicke ließen sie zurückrudern. »Ich meine, irgendeinen Grund muss es doch geben, warum Amrits Forschungsgruppe sich so brennend für uns interessiert.«
»Das darf man nicht überbewerten«, mahnte Bets. Erin widersprach sofort, worauf ein längerer Wortwechsel folgte.
Calliope lehnte sich zufrieden zurück. Sie wusste, dass sich bald zeigen würde, wer recht behielt. Der Wunsch herauszufinden, was ihre Familie besonders machte, hatte Amrit zu ihr geführt, und bald würde dieses Interesse noch zu ganz anderen Dingen führen. Sie ahnte instinktiv, dass Hong Wus Tod erst der Anfang war. Sobald sich das Interesse der Medien auf Anna richten würde, würden alle das Geheimnis ihrer Langlebigkeit lüften wollen, das sich auf wunderbare Weise durch mittlerweile sechs Generationen von Erstgeborenen hindurchzog. Die Leute suchten eben stets nach Erklärungen für das Unerklärliche.
Hong Wu hatte lange den Rekord als ältester Mensch der Welt gehalten. Zuvor war der Titel ein Wanderpokal gewesen, der alle paar Monate an einen anderen übergeben wurde. Während der schrecklichen Hitzewelle im Sommer 2002 ging er in rascher Folge
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