Der Olivenhain
lichten Moment hatte. Sie musste mehr über die Oliven in Erfahrung bringen, um den Medienleuten Rede und Antwort stehen zu können. Ganz gleich, wie Bets darüber dachte, Calliope wusste: Sie würden bald vor der Tür stehen.
Sie versuchte, Kidron mit den Augen eines Außenstehenden zu betrachten. Verwitterung und Verfall lagen über dem Ort. An vielen Gebäuden blätterte die Stuckfassade bereits ab, und man konnte das Gemäuer durchscheinen sehen. Andere Häuser hatten gelbe Wasserflecke, von denen auch die anlässlich der Einhundertjahrfeier vor sieben Jahren frisch gestrichenen Pfosten der Vorgärten nicht ablenken konnten. Im Gegenteil, die leuchtenden Farben ließen den Rest umso grauer erscheinen. Kidron war eine öde, staubige Kleinstadt, deren Bewohner im Durchschnitt jenseits der fünfzig waren.
Vor fünfzehn Jahren hatte das Krankenhaus dichtgemacht, doch das Pflegeheim Golden Sunsets, ein schmuckloser Bau, expandierte in alle Richtungen. Der einzige optische Reiz bestand darin, dass die Flügel in unterschiedlichen Gelbtönen gehalten waren. Wahrscheinlich sollte das an einen Sonnenuntergang erinnern, aber Calliope fand, dass es eher wie eine Kinderbetreuungsstätte aussah, was es, bei genauer Betrachtung, ja auch fast war. Dort lebte ihr Vater seit zwanzig Jahren.
Er wirkte alt und zugleich jung mit seinem schlohweißen Schopf, der noch immer dicht und füllig war. Seine Mimik war frisch und hellwach. Auch sein Körper war drahtig und wendig, nur seine ledrigen Runzeln und Tränensäcke und die schlaff herabhängende Haut an Kinn und Oberarmen verrieten sein Alter.
»Hallo Frank«, sagte Calliope und streckte ihm die Hand hin. Von ihren vielen Besuchen wusste sie, dass es ihn nur verwirrte, wenn sie ihn »Daddy« nannte, obwohl ihr das lieber gewesen wäre.
»Ma chère«, erwiderte er galant, und seine Lippen berührten flüchtig ihren Handrücken. Dieses gekünstelte Verhalten hatte er sich erst im Heim angewöhnt. Calliope hatte den Verdacht, dass er sich im Grunde immer nach einem anderen Leben gesehnt hatte.
Weil es noch früh am Tag war, war er noch nicht richtig angezogen. Er trug einen Hausmantel und einen violetten Krawattenschal um den Hals, wie ein Dandy. »Sie sehen fantastisch aus«, sagte sie.
»Welche Neuigkeiten bringen Sie mit, meine Liebe?«, fragte Frank lässig aus seinem Lehnstuhl. Seine ausgeleierten Ohrläppchen wackelten, als er sich zu ihr vorbeugte.
»Klatsch und Tratsch aus Hill House«, sagte Calliope verschwörerisch und rückte ihren Stuhl näher heran.
»Ah, die Keller-Frauen. Die geraten immer in Schwierigkeiten.« Sobald man Hill House erwähnte, blitzten seine Äuglein, das verfehlte seine Wirkung nie.
Sie berichtete, dass Anna nun der älteste Mensch der Welt war und sie ein neues Öl kreiert hatte. Manche Details änderte sie ab, damit er es nicht mit sich in Verbindung brachte. Für Frank stand die Zeit still, und sie hatte gelernt, dass es riskant war, ihn an sein wahres Alter zu erinnern. Doch sie wollte ihm unbedingt von der Sechsten Generation berichten, weil sie hoffte, wenigstens er würde ihr Vorhaben unterstützen, so wie früher, als sie immer auf seinen Beistand zählen konnte.
In dem Jahr, in dem sie zwölf Jahre alt wurde, hatte sie sich jedes Mal wie eine Klette an ihn geheftet, wenn er in den Hain ging. Calliope spürte damals, dass sie langsam erwachsen wurde, und hatte Angst, dass ihre Mutter es ihr nicht mehr lange erlauben würde, mit ihm durch den Olivenhain zu streifen. Bets registrierte misstrauisch jede Veränderung bei ihrer heranwachsenden Tochter, und deshalb ging ihr Calliope damals am liebsten aus dem Weg.
In jenem Sommer zeigte ihr der Vater, wie man Bäume veredelte. Gemeinsam pfropften sie eine neue Züchtung auf Annas alte Bäume, um den Ölertrag zu steigern. Nach einem langen Arbeitstag im Hain trug er sie meist huckepack nach Hause. Ihre Brüder arbeiteten damals entweder auf den Plantagen der Lindseys oder waren noch zu klein, um mitzuhelfen.
»Den Hain kenne ich gut, dort habe ich früher gearbeitet«, sagte Frank, als sie ihm beschrieb, aus welchen Oliven sie ihr neues Öl gewonnen hatte. »Mein kleines Mädchen war immer dabei. Ich habe sie immer herumgetragen und ihr Stückchen von dem Dörrfleisch gegeben, das ich in meinen Taschen hatte.«
»Ja, das stimmt!«, rief Calliope atemlos.
»Sie waren die Lehrerin meiner Kleinen, nicht wahr? Oder waren meine Jungs bei Ihnen in der Klasse? Mein Mädchen fliegt jetzt um
Weitere Kostenlose Bücher