Der Olivenhain
völlig in den Hintergrund.
Doch das Öl musste noch vor dem Herbst verkauft werden, sonst wurde es bitter und taugte höchstens noch zur Beleuchtung. Als es in Hill House noch keine Elektrizität gab, benutzten Anna und Mims ranziges Öl als Lichtquelle. Anna behauptete, dass es genauso hell brannte wie Waltran, nur habe die Flamme bläulich geschimmert und die Luft nach Oliven geduftet.
Im Wohnzimmer hatten alle Frauen ihre Augen auf die Flasche gerichtet. Andächtig strich Anna über die Prägung des goldenen Etiketts.
Bets stand hinter ihr und spähte ihr neugierig über die Schulter. »Du hast es also gemacht.«
»Es steht bereits zum Verkauf im Regal. Ich habe einige Flaschen mit hergebracht, um sie später den Reportern zu präsentieren«, sagte Calliope.
»Welchen Reportern denn?«, fragte Erin.
»Fang nicht wieder damit an«, sagte Bets.
Calliope überhörte die Bemerkung und wandte sich Anna zu: »Das ist dein Öl, die Spätlese deiner Oliven. Dieses Jahr ist wirklich keine einzige Frucht am Baum hängen geblieben.«
»Das ist allerdings ungewöhnlich«, sagte Anna. »Die Flasche sieht so kostbar aus. Mein Öl wird normalerweise in eine alte Weinflasche abgefüllt – du weißt ja, die auf dem Küchenregal oben. Ist das nicht alles ein wenig übertrieben?«
»Nein«, rief Calliope aufgeregt, »das ist nicht übertrieben, es ist unsere Rettung! Damit wird das Geschäft saniert, warte nur ab. Wenn die Medienleute erst hier sind, können wir ein paar Flaschen herumgehen lassen. Du erzählst dann, dass du jeden Tag damit kochst, und das wird …«
»Was hast du vor?«, unterbrach Bets sie unwirsch.
»Die Leute werden sich darauf stürzen, und weil das Angebot begrenzt ist, bezahlen sie bestimmt einen guten Preis. Das bringt Geld.« Calliope drehte sich zu ihrer Mutter um. »Ich weiß, dass du es nicht …«
»Ich habe genug von diesem Unsinn! Seit Monaten mache ich mir Sorgen um dich und deinen Laden. Und jetzt kommst du mit dieser hirnverbrannten Idee an – du schwebst doch in anderen Sphären!«
»Hör jetzt auf, Grandma Bets!«, rief Erin. Der kleine Keller wand sich unbehaglich in ihrem Arm.
Grimmig presste Bets die Lippen zusammen und schwieg.
»Glaubt bloß nicht, dass die wirklich Leute herschicken, um mich zu interviewen«, sagte Anna. »Das war früher so, aber seit es Telefon mit Bild und Internet gibt, ist das vorbei. Schaut euch den armen Hong Wu an – für mehr als eine Kurzmeldung hat es nicht gereicht.«
»Sie werden kommen«, sagte Calliope siegessicher. Annas Einwand mochte stimmen, aber ihre Familie hatte den Medien mehr zu bieten als Hong Wu. Nach allem, was Amrit über sein Forschungsprojekt erzählt hatte, würde Annas Geschichte auf ein großes Medieninteresse stoßen. Sie war bestimmt keine Eintagsfliege.
»Wie viel willst du pro Flasche verlangen?«, fragte Bets. Sie hatte in der Zwischenzeit Erin den Säugling abgenommen und sich wieder aufs Sofa gesetzt. Erin stand am Fenster, streckte ihre Wirbelsäule und dehnte sich zur Seite.
»Fünfzig Dollar die Unze.«
»Du bist ja wahnsinnig«, rief Erin hysterisch lachend.
Auch Anna lachte, doch sie hatte begriffen, worauf Calliope hinauswollte. »Ihr unterschätzt die Angst der Leute vor dem Sterben. Sie würden ihren letzten Penny opfern, um ein paar Jahre länger zu leben. Callie verkauft ihnen kein Öl, sie verkauft Lebenszeit.«
3.
Frank
C a lliope besuchte ihren Vater zwei Mal die Woche im Pflegeheim. Früher war sie mit ihrer Mutter jeden Tag hingefahren, doch mit der Zeit wurde das allen Beteiligten zu anstrengend. Frank war oft überfordert und konnte sich nicht mehr erinnern, wer sie waren und warum sie kamen. Er war dann für den Rest des Tages schrecklich angespannt.
Schwierig war auch, dass Calliope dann mit ihrer Mutter alleine war, denn sie hatten sich kaum etwas zu sagen. Die Querelen wegen des neuen Öls hatten die Situation noch verschärft. Calliope hätte ihren Vater gern um Rat gefragt, denn nur er wusste, wie man Bets beschwichtigen konnte. Doch meistens erkannte er weder seine Tochter noch seine Frau wieder, wenn sie ihn besuchen kamen.
Während der Fahrt überlegte Calliope, wie sie die Erinnerung an sein früheres Leben auffrischen konnte. Vielleicht über den Olivenhain? Annas Vater hatte Frank in die Finessen des Olivenanbaus eingeweiht, nur die beiden kannten alle Sorten und wussten, welche Kreuzungen Erfolg versprachen. Sie durfte keine Wunder erwarten, trotzdem hoffte sie, dass er einen
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