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Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Miller Santo
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durch mindestens vierzehn Hände. Bis dahin war Jeanne Calment lange Zeit »Doyenne der Menschheit« gewesen, wie sie von ihren Landsleuten liebevoll genannt wurde.
    Fast ein Jahrzehnt lang stand sie unangefochten an der Spitze der Alterspyramide, bis sie 1997 mit hundertzweiundzwanzig Jahren nach einem höchst ungewöhnlichen Leben verstarb. Mit dreizehn hatte sie im väterlichen Geschäft Vincent van Gogh Buntstifte verkauft. Sie beschrieb den berühmten Maler später als stinkenden, schmutzigen, ruppigen Kerl und wusste auch über seine Werke nichts Positives zu berichten. Mit achtzig hatte sie all ihre Familienangehörigen überlebt, auch ihren Enkel, der bei einem Motorradunfall ums Leben kam. Ihren Ehemann hatte sie aufgrund einer Vergiftung früh verloren, nachdem er ein verdorbenes Kirschdessert gegessen hatte. Sie selbst hatte nach dem Nachtisch keine Beschwerden, ihr war nur etwas übel.
    Calliope faszinierte der Medienrummel um diese Frau. Aus dem hintersten Winkel Chinas kamen Reporter angereist, um die älteste Frau der Welt in einem kleinen Kaff in Südfrankreich zu interviewen. Sie war schlagfertig und gab gern Anekdoten zum Besten: »Ich habe nur eine Falte – und auf der sitze ich.«
    Auch Ratschläge teilte sie großzügig aus: »Wer andere zu festhält, macht etwas falsch.« Selbst philosophische Erkenntnisse durften nicht fehlen: »Gott hat mich wohl vergessen.« Die Medienmeute war begeistert. Ihre persönlichen Erinnerungen an historische Ereignisse zählten mehr als jede wissenschaftlich fundierte Studie, und ihre Schilderung vom Bau des Eiffelturms stellte sogar Monsieur Eiffels autobiografischen Bericht in den Schatten. Calliope, die nach dem Flugzeugabsturz selbst kurze Berühmtheit erlangt hatte, beneidete Jeanne Calment um ihr Talent, die Presse ein ganzes Jahrzehnt lang bei Laune zu halten.
    Ganz besonders interessierte Calliope allerdings Jeanne Calments Rezept für ihre Vitalität im Alter. Neben Gemeinplätzen wie Lebensfreude und nach vorne zu blicken zählte sie drei unverzichtbare Laster auf, denen sie täglich frönte: Schokolade, Rauchen und ein Glas Bordeaux. Ihren Angaben zufolge spülte sie die schädlichen Folgen mit einer ordentlichen Dosis Olivenöl wieder aus, das sie nicht nur zum Kochen benutzte, sondern auch als Creme für die Haut. Zusätzlich schlürfte sie jeden Abend vor dem Schlafengehen einen Teelöffel Olivenöl pur.
    Für Calliope war klar: Ihre Familie saß auf einer Goldader. Seit dreißig Jahren kümmerte ihr Nachbar sich um den Hain und überwies ihnen sechzig Prozent des Gewinns nach Abzug aller Kosten. Für Anna und Bets reichte das zum Leben.
    Nach der Ernte blieben aber immer einige Oliven an den Zweigen hängen, die, wenn man sie bis Januar hängen ließ, ein ganz besonderes Öl produzierten. Die reguläre Ernte war im November, danach ging Anna jeden Tag in den Hain, um die Reste zu pflücken, aus denen sie mit der Handpresse ihres Vaters Percy Öl für den Hausgebrauch gewann.
    »Olio nuovo« sagte man in Italien zu diesem Öl, das für sein pikantes, pfeffriges Aroma und seine gesundheitsfördernde Wirkung bekannt war. Als im vergangenen Winter alle anderen bei Debs Anhörung waren, hatte Calliope die restlichen Oliven von Saisonarbeitern einsammeln lassen.
    Die Herstellung von Olivenöl war bekanntermaßen sehr kompliziert. Calliope hatte die Früchte noch am Tag der Ernte in einer Raffinerie am Stadtrand verarbeiten lassen. Das Öl wurde gefiltert und in riesigen Stahltanks dunkel und kühl gelagert. Trotz der Feinfilterung passierte es immer wieder, dass Reste der Früchte ins Öl gelangten, dann roch es muffig und musste schnell verbraucht werden. Das frisch gepresste Olivenöl war am Anfang grün, erst nach vielen Wochen Lagerung verfärbte es sich golden. Ende März hatte Calliope zum ersten Mal davon probiert, um sicherzustellen, dass alles gutgegangen war.
    Das Öl, dem sie den Namen Sechste Generation gegeben hatte, schmeckte herrlich nach Oliven mit einem leicht pfeffrigen Aroma und einem zart buttrigem Abgang. Sogar eine pikante Zitrusnote wollte Calliope herausschmecken. Robert und Petey wurden zur Abfüllung abkommandiert, und die Flaschen bekamen ein Etikett mit der Aufschrift Kellers Familienmischung . Pünktlich zur Geburt des Babys waren fünfhundert Flaschen Öl fertig. Calliope hatte ursprünglich vor, alle damit zu beschenken, doch dann kam Debs dramatischer Abgang dazwischen – und die Einführung des neuen Produkts rückte

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