Der Olivenhain
schmutzigen Stellen zwischen den Gläsern und Dosen zeigte.
»Warum sind die Verpackungen eigentlich rund? Wenn sie rechteckig wären, könnte man sie dichter stapeln«, sagte er und schnappte sich einen Lappen.
Calliope nahm ihre Unterlagen und ging damit in ihr Büro, das leicht erhöht auf einer Seite des Verkaufsraums lag. Sie war klein und hatte ihr Leben lang in Menschenmengen zwischen den Menschen hindurchblicken müssen. Nach Gregs Tod hatte sie deshalb die Wände des Büroraums, die früher bis zur Decke hinaufreichten, auf halbe Höhe zurückbauen lassen, sodass sie zum Verkaufsraum hin offen waren.
Der Pit Stop war seine Idee gewesen, die Einrichtung ihre. Davor war der Pit Stop ein Supermarkt gewesen, und Greg klagte immer, dass man das dem Geschäft nach dem Umbau immer noch ansah. Calliope aber fühlte sich dort sehr wohl.
Die Schmerzen wurden nun unerträglich. Nachdem sie durch die Schwingtür das Büro betreten hatte, ließ sie sich sofort in ihren ergonomischen Stuhl fallen und angelte nach der Notfallration in der Schreibtischschublade. Ohne Wasser würgte sie die Tabletten trocken hinunter.
Von der erhöhten Position aus hatte sie einen guten Überblick über das Geschäft. In der Mitte war die Verkostungstheke, um die herum die Verkaufsregale mit den Olivenprodukten, sortiert nach Herkunftsländern, angeordnet waren. Die größte Abteilung bildeten die Produkte aus Kalifornien und Kidron. Am gegenüberliegenden Ende des Verkaufsraums gab es eine Imbisstheke, und Nippes füllte die Randbereiche: Olivenseife, Olivenhölzer, Postkarten, Aufkleber, Olivenbesteck, kitschige Servierteller. Das verkaufte sich zwar nicht so gut wie die Oliven, doch die Gewinnspanne war um einiges höher. Zudem wurde vieles in Kidron hergestellt, und Calliope verkaufte die Produkte auf Kommissionsbasis. Die geschnitzten Rosen aus Olivenholz von Louisa Ramirez liefen ziemlich gut, sie musste manchmal zweimal in der Woche Nachschub liefern. Lucy Talbots selbst getöpferte Servierplatten hingegen gingen überhaupt nicht. Calliope konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal eine Platte verkauft hatte. Vielleicht sollte sie Teile von Lucys Verkaufsfläche für Louisa freimachen.
Der Laden hatte in den letzten Jahren mehr Geld geschluckt als abgeworfen. Die vielen Frühjahrsstürme waren besonders geschäftsschädigend gewesen. Bei Regen hatten die Reisenden keine Lust auszusteigen, wenn sie es nicht unbedingt mussten. Doch sobald der Wind sanft von Süden her wehte, florierte auch das Geschäft. Die Reisenden fuhren an den riesigen Olivenplantagen vorbei, rochen den Duft der Blüten und machten gern Rast beim Pit Stop, wo sie Calliope dann mit Fragen über Oliven im Allgemeinen und Anbautechniken im Besonderen löcherten. Solche Gespräche führten immer auch zu befriedigenden Umsatzzahlen.
Früher gab es nur sehr wenige Feinkostläden, die auserlesene Öle aus aller Welt und Oliven führten, aber der Internethandel machte Calliope große Konkurrenz. Manche Kunden fotografierten die Produkte mit ihrem Handy, um später die Preise zu vergleichen. Einige lokale Erzeuger hatten die Verträge mit ihr gekündigt, weil es lukrativer war, die Oliven direkt übers Internet zu verkaufen.
Trotz aller Probleme hatte Calliope das Gefühl, dass ihr Leben noch einmal eine neue Wende nehmen würde. Wie hieß es doch: Im Leben eines jeden Amerikaners gibt es keinen zweiten Akt. Calliope aber spürte, dass für die Frauen in ihrer Familie mindestens zwei, vielleicht sogar drei Akte auf der Bühne des Lebens vorgesehen waren.
Während der Laptop hochfuhr, blätterte sie im San Francisco Examiner. Sie verkaufte die Zeitung im Laden, und die Exemplare des Vortags landeten immer auf ihrem Schreibtisch. Seit Debs Verschwinden hatte sich offenbar wenig ereignet. Die Zeitung setzte überhaupt keine Schwerpunkte mehr, alles schien gleich wichtig oder unbedeutend. Die Wahlen von heute waren morgen schon vergessen, Unternehmen, die gestern gefeiert wurden, mussten übermorgen Konkurs anmelden.
Die Nachricht, die ihr Leben verändern sollte, war kurz. Unter der Rubrik Aus aller Welt wurde gemeldet, dass der älteste Mensch der Welt, Hong Wu aus China, vor zwei Tagen in seinem Haus friedlich entschlafen war. Seine Tochter sei untröstlich, hieß es weiter.
»Anna hat’s geschafft! Sie ist jetzt die Älteste!«, schrie Calliope. Die beiden Jungs ließen die Putzlappen fallen. Nancy schüttelte den Kopf. »Ich werd’ nicht mehr«,
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