Der Olivenhain
Enkeln.« Calliope wusste, dass diese Bemerkung ziemlich gemein war, denn Nancy hatte keine eigenen Kinder. Ihren Mann, einen Elvis-Imitator, hatte sie erst mit weit über fünfzig geheiratet. Der allerdings hatte mindestens sechs oder sieben eigene Kinder in die Ehe mitgebracht.
»Gefühle sind, wie sie sind.« Nancys Stimme bebte. Entweder versuchte sie gerade, diese Gefühle zu unterdrücken, oder es war nur ein Husten.
Calliope nickte. Von Nancys Stiefkindern war eins missratener als das andere. Sie hatten verschiedene Mütter, die geglaubt hatten, dass sie nach einer Nacht mit dem falschen Elvis ganz nah am echten dran wären. Nancy behandelte seine Kinder zwar wie ihre eigenen, stieß damit jedoch nicht unbedingt auf Gegenliebe. Seit Jahren musste sich Calliope anhören, wie Nancy ihren Mann in Schutz nahm, obwohl der ihr Gehalt verprasste, um seinen Kindern und Enkeln teure Geschenke zu kaufen. Mr. Elvis, wie ihn Calliope heimlich getauft hatte, war schon in Rente und warf sich höchstens noch einmal im Monat für eine Show der American Legion in Redding in Schale.
»Was macht dein Doktor?«, fragte Nancy, als hätte sie gerochen, dass Calliope gerade über Beziehungen nachdachte. Nach dem Tod ihres Mannes war Nancy ihre Vertraute geworden. Sie wusste über Calliopes Affären und One-Night-Stands Bescheid und kannte sämtliche Geschichten, die Calliope zu Hause nie erzählen würde. Vor allem nicht im Beisein ihrer Mutter Bets, die besonders strikte Moralvorstellungen vertrat.
Obwohl auch Nancy sehr zurückhaltend war, nahm sie stets wie ein Teenager Anteil an Calliopes Liebesabenteuern. Doch bei Amrit hielt sich Calliope sehr bedeckt und verschwieg die entscheidenden pikanten Details.
Gleich in der ersten Nacht nach seiner Ankunft in Kidron hatten sie miteinander geschlafen. Schon als sie seine Stimme am Telefon hörte, wusste sie, dass sie mit ihm ins Bett gehen würde. Wenig später, als sie zusammen auf dem viel zu weichen Sofa in Hill House saßen, wuchs ihr Verlangen nach ihm ins Unermessliche. Während des Mittagessens machten sie höflich Konversation, wobei es ihr gelang, ihm den Namen des Motels und seine Zimmernummer zu entlocken.
Nachdem sich Anna und Bets schlafen gelegt hatten, war sie in die hochhackigen Sandalen geschlüpft, zum Motel gefahren, hatte sich die Lippen nachgezogen und an seine Tür geklopft. Die Möglichkeit einer Abfuhr hatte sie nicht einen Moment in Betracht gezogen.
Amrit war dreißig Jahre lang mit der ihm treu ergebenen Padra verheiratet gewesen, die kurz vor ihrem fünfzigsten Geburtstag völlig unerwartet an einem Aneurysma verstarb. Die Ehe blieb kinderlos. Das erzählte er Calliope nach ihrer fünften gemeinsamen Nacht. Er gestand ihr auch, dass sie nur bei gelöschtem Licht im gemeinsamen Ehebett Sex hatten.
Calliope lachte, befürchtete dann aber, er könnte sie missverstehen. Zärtlich drückte sie seine Hand und beteuerte, mit ihm sei es vollkommen anders als mit all den Männern zuvor. Während sie sprachen, streichelte er ihre Brustwarzen, die sich unter ihrer hauchdünnen Seidenbluse abzeichneten, und noch bevor sie sich gegenseitig ihre Geschichte zu Ende erzählt hatten, liebten sie sich auf dem Vordersitz seines Mietwagens auf einem gottverlassenen Acker vor dem Panorama von Mount Shasta.
Mit Amrit erlebte Calliope zum ersten Mal, was Leidenschaft hieß. Alle früheren Empfindungen für Männer, auch ihren eigenen Ehemann, erschienen dagegen wie bloße Erregung. Als Amrit nach Pittsburgh zurückmusste, war Calliope völlig orientierungslos, sie verfuhr sich auf bekannten Strecken, weil ihr alles plötzlich neu und anders erschien. Die Ulme an der Kreuzung von C Street und Polk Street sah aus wie zwei wild ineinander verschlungene Figuren, und die alte, mehrstöckige Ranch mit dem großen blauen Tor an der Ecke Main und F Street hatte sich über Nacht in einen verwitterten Palast im Kolonialstil verwandelt.
Doch die gegenseitige Anziehung war nicht nur körperlicher Natur. Nach der Landung in Pittsburgh rief Amrit noch vom Rollfeld aus an, um ihr seine Liebe zu gestehen. Calliope hatte weder ihrer Mutter noch der Großmutter von dieser Beziehung erzählt. Selbst Erin wusste von nichts, obwohl sie es sicher verstanden hätte.
Zwei Mal hatte Calliope ihn seither an der Ostküste getroffen, immer unter dem Vorwand, ihre Kinder zu besuchen. Über Weihnachten war sie nach New York geflogen, um mit der Familie ihres ältesten Sohnes zu feiern. Nach dem Fest
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