Der Olivenhain
die ganze Welt, und die Buben sind auf dem College.«
Die Jungs waren nach dem College nicht mehr nach Kidron zurückgekehrt, sondern zu den Familien ihrer Ehefrauen gezogen. Johnny, der Jüngste, war in Vietnam ums Leben gekommen. Manchmal besuchte Bets ihre Söhne zu Weihnachten, doch sie selbst fanden immer eine Ausrede, um nicht nach Kidron kommen zu müssen. Calliope vermutete, dass sie Frank nicht sehen wollten. Ihnen gegenüber war er immer sehr streng und unerbittlich gewesen.
»Ihre Tochter ist Flugbegleiterin geworden?«, fragte Calliope und versuchte ruhig zu bleiben. Vielleicht war die Frage voreilig, doch sie wollte so gerne zu ihm durchdringen.
»Flugbegleiterin? Was soll denn das sein? Sie ist eine Stewardess! Aber clever genug, um den Steuerknüppel selbst in die Hand zu nehmen. Es gibt nur eines, was sie mehr liebt als das Fliegen, das ist der Olivenhain.«
»Erzählen Sie mir vom Olivenhain«, flüsterte sie und fühlte sich zurückversetzt in eine Zeit, in der sie am Arm ihres Vaters alles andere um sich herum vergessen konnte. Manchmal war es ihr vorgekommen, als wandelten sie auf heiligem Grund. Im Olivenhain war sie in einer anderen Sphäre, dann dehnte sich die Welt ins Unendliche, die Baumkronen wurden zum Universum und die Früchte zu Sternen, die in unermesslicher Zahl am Firmament leuchteten.
Als ihr Vater anfing zu erzählen, beschrieb er genau dieses Gefühl. Sie war dankbar, dass es ihn gab, nur wegen ihm hatte sie die letzten vierzig Jahre in Kidron ertragen. Sie war sich sicher, dass Bets ihn nur geheiratet hatte, weil er so viel von Oliven verstand. Seine Vorfahren kamen aus Italien und hatten viel Erfahrung mit dem Anbau. Bevor sie zur Ausbildung nach Chicago ging, hatte er die Baumbestände mit Bouteillan-Ablegern aufgepfropft.
Früher dachten alle, die Ölherstellung lohne sich nicht. Schon die ersten Siedler hatten es versucht, doch es stellte sich bald heraus, dass die Oliven in Kidron zwar gut gediehen, aber zu wenig Öl abwarfen. Die Investition zahlte sich nicht aus, und der Preis für kalifornisches Öl war höher als für importiertes Öl aus Europa.
Er unterbrach sich und sah sie an. »Ich bin ein schlechter Gastgeber. Sie wollten einen Rat, und ich schwatze einfach drauflos, ohne zu fragen, welches Problem Sie eigentlich haben.«
Calliope erzählte, dass die Nachfrage nach kalifornischem Olivenöl enorm gestiegen sei. Dass Tafeloliven sich nicht mehr verkauften, deshalb waren die Bauern vor Ort dazu übergegangen, ertragreiche Ölsorten anzupflanzen. Sie berichtete von einer neuen Generation von Verbrauchern, die Wert auf regionale Produkte und geringe Pestizidbelastung legte.
Frank beugte sich zu ihr hinüber und griff nach ihrer Hand wie ein kleiner Junge, doch die vertrauliche Geste geschah rein zufällig. Calliope schwieg und sah ihrem Vater in die Augen. Sie hoffte auf einen lichten Moment des Wiedererkennens. Manchmal flackerte eine Erinnerung auf, doch die bezog sich nie auf die Gegenwart. Wenn er sie erkannte, dann nur als die, die sie einst war, lange bevor er sich an nichts mehr erinnern konnte. Echte Vertrautheit blieb ein Wunschtraum.
»Mit Öl kann man viel Geld machen«, sagte er.
»Leider sind die Ölvorkommen hier in Kalifornien ausgesprochen dürftig«, erwiderte Calliope.
Er lachte, und es war befreiend wie ein lang ersehnter Regenschauer nach einem heißen, staubtrockenen Sommer.
»Der Witz ist gut. Sie haben einen scharfen Verstand, das gefällt mir. Ich werde Ihnen etwas verraten.« Er beugte sich noch näher zu ihr. »Auf die Sorte kommt es an. Bouteillan-Oliven liefern am meisten Öl, sie wachsen im Olivenhain meiner Frau. Der Ertrag liegt bei etwa fünfunddreißig Prozent, und die Früchte sind groß genug, um sie als Tafeloliven zu vermarkten, falls man kein Öl produzieren will. Keiner hat mir das geglaubt, denn selbst für die sehr ergiebige Sorte Bouteillan erscheint dieser Ertrag ungeheuer. Es wurde aber von einem jungen Wissenschaftler der landwirtschaftlichen Hochschule bestätigt, genauso, wie ich vorausgesagt hatte. Vielleicht liegt es am Boden, so gut wie hier gedeiht diese robuste Sorte nirgends. Ich kann Ihnen junge Triebe zur Veredelung mitgeben, falls Sie es ausprobieren wollen.«
»Flüssiges Gold«, flüsterte Calliope.
Ihr Vater lächelte, und sein schlohweißer Schopf, den er stets sorgfältig aus dem Gesicht kämmte, fiel ihm in die Stirn. »Nur eines müssen Sie dabei beachten: Man darf sie nicht im Oktober ernten,
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