Der Olivenhain
sondern erst nach Weihnachten oder Neujahr. Je kälter es im Herbst ist, desto üppiger fällt die Ernte aus.«
Das wusste sie noch von früher. Eine ihrer liebsten Erinnerungen an ihre Kindheit war verbunden mit der späten Ernte an Weihnachten. Sie wollte, dass er davon redete. »Ihre Kinder haben mir von diesem Wunderöl erzählt. Sie fanden es sogar in ihren Nikolausstrümpfen.«
Franks Augen verengten sich zu Schlitzen. Sie wusste nicht, ob er nun misstrauisch wurde oder nur versuchte, sich zu erinnern. »Was für ein Unfug, das hätten wir nie getan, denn das Öl verdirbt schnell. Die Kinder hatten Orangen in ihren Strümpfen.«
An die Orangen vorne in der Socke erinnerte sie sich wohl. Doch sie hätte ihn gern dazu gebracht, vom ersten Weihnachten zu erzählen, an dem die veredelten Bäume endlich erntereif waren. Er hatte die auf den Bäumen verbliebenen Früchte mühsam zusammengeklaubt, denn Anna war dagegen, die ganze Ernte bis nach Weihnachten zu verschieben. Am Weihnachtsabend hatte er stolz – fast so wie bei der Geburt seines jüngsten Sohnes Johnny – eine aufwendige Verkostung des neuen Öls für seine Frau organisiert.
Sie unternahm einen neuen Versuch. »Kann man eigentlich die Herkunft eines Öls herausschmecken?«
Franks Blick flackerte nun. »Warum stellen Sie mir all diese Fragen über Olivenöl? Ich dachte, Sie sind hier, um zu prüfen, ob ich fit genug bin für einen Ausflug.«
Er hatte sich ausgeklinkt. Manchmal ging es rasend schnell, dann genügte ein Blick aus dem Fenster oder eine Frage, die er nicht sofort verarbeiten konnte – und schon war der Schalter im Gehirn wieder auf null gestellt. Für ihn war sie nun wieder eine Fremde. Sie kannte das schon von früheren Besuchen und wusste, dass es besser war, sich jetzt rasch zu verabschieden.
»Alles in Ordnung, Mr. Wallace, kein Problem. Ich werde Dolores Bescheid geben. Ihr Gesundheitszustand erlaubt durchaus hin und wieder kurze Ausflüge.« Sie streckte ihm die Hand hin und er erhob sich.
»Guy wird sich freuen, er möchte unbedingt mit mir ins Casino.«
Frank folgte Calliope aus dem Zimmer und rief nach seinem Freund Guy. Während sie mit Dolores am Empfang sprach, beobachtete sie, wie sich die beiden Männer mit einem Küsschen links und rechts begrüßten. Guy erhob sich sogar leicht aus seinem Rollstuhl, um ihren Vater zu umarmen. »Die beiden scheinen sich ja recht nah zu sein«, sagte sie zu Dolores.
»Es ist schön, dass sie sich gefunden haben, sie haben viele Gemeinsamkeiten. Guy war in ganz schlechter Verfassung und sehr depressiv, bevor er Ihren Vater kennenlernte. Und Guy tut Ihrem Vater gut, er beruhigt ihn.«
»Dad sagte, er wolle einen Ausflug machen. Muss ich irgendetwas unterschreiben?«
»Nein, Ihre Mutter hat das schon erledigt, als sie vorhin hier war.«
»Weiß sie Bescheid über Guy?«, fragte Calliope.
Die Schwester zuckte mit den Schultern. »Wer weiß denn heutzutage noch Bescheid über irgendwas?«
Damals am Weihnachtsabend war ihre Mutter nicht nach Hause gekommen. Bevor ihr jüngster Bruder Johnny auf die Welt kam, war Bets oft ein paar Tage im Monat verschwunden. Frank nannte es »Ausbrechen«. Auf dem Tisch hatte er einen Teller Brot und Schälchen mit unterschiedlichen Ölsorten zur Verkostung arrangiert. »Eine kleine Leckerei für eure Mutter«, hatte er verkündet.
Nachdem er den Kindern ein Weihnachtsgedicht vorgetragen hatte, brachte er sie ins Bett. Calliope schlang ihre Arme um ihn und flüsterte, sie mache sich solche Sorgen. Er beugte sich zu ihr hinab und sagte, sie solle beten. »Deine Mama kommt immer zu uns zurück. Wir können ihr nur nicht all das geben, was sie braucht. Deshalb bricht sie manchmal aus.«
Um Mitternacht schlich Calliope die Treppe hinunter. Anstatt sie zurück ins Bett zu schicken, rief ihr Vater sie nach unten und fragte, ob sie bereit sei für einen kleinen Test. Sie durfte von jedem der Schälchen auf dem Tisch probieren, während er ihr die Eigenschaften der Öle erklärte. Sie schmeckten fruchtig, pfeffrig oder bitter wie Orangenschalen.
Ob sie denn sagen könne, welches davon das neue Öl sei, wollte er wissen. Ohne zu überlegen, zeigte sie mit dem Finger auf eine Schale. Er schnaufte verächtlich: »Sieh dir doch bloß die Farbe an!«, schrie er. »Das ist eine Dreckpfütze, absoluter Pansch! Aber das hier«, er hob die mittlere Schale empor, »schau her, das funkelt wie flüssiges Gold!«
Calliope fand, es glich farblich eher einem grellen
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