Der Olivenhain
Blitz, der durch die Wolken bricht. Hinterher wünschte sie, sie hätte sich mit der Antwort mehr Zeit gelassen. Das Öl im mittleren Schälchen war tatsächlich fruchtiger im Aroma, während die anderen muffig oder seifig schmeckten. Doch sie hatte die Sache schnell hinter sich bringen wollen, weil sie müde war und schnell ins Bett gehen wollte. Sie hoffte so sehr, dass ihre Mutter morgen früh schon für alle Pancakes gemacht hatte, wenn sie aufstand.
Doch ihr Vater schickte sie nicht gleich ins Bett. Stattdessen öffnete er den Schrank im Flur und zog an einer Schnur. Unter der Schuhablage am Schrankboden ging eine Falltür auf, und von dort holte er die Weihnachtsgeschenke hervor. Er drückte ihr die Päckchen in die Hand und wies sie an, sie unter den Weihnachtsbaum zu legen. Bis zu diesem Tag hatte Calliope noch an den Weihnachtsmann geglaubt.
4.
Verkauf
B e ts fand Calliope allein in der Küche, wo sie gerade den Ofen sauber machte.
»Außer dir sieht diese Krümel doch sowieso kein Mensch«, sagte Bets. Es waren die ersten Worte seit Wochen, die sie direkt an Calliope richtete.
»Die Ameisen werden sie finden, und dann müssen wir wieder diesen scheußlichen Kammerjäger rufen«, erwiderte Calliope.
»Ich möchte keinen Streit anfangen. Warum tust du das immer?«
»Tue ich was immer?«
»Denken, dass jedes Wort, das aus meinem oder Debs Mund kommt, ein Angriff auf dich ist.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, sagte Calliope, wischte die letzten Krümel in ihre Hand und lehnte sich dann gegen den Ofen, um ihr krankes Bein zu entlasten. Putzen war wie Meditation für sie. Der Geruch von Zitrone und Essig oder der Anblick einer blank gewienerten Arbeitsplatte machten ihren Kopf frei und brachten sie auf neue Ideen.
Gerade eben zum Beispiel hatte sie beschlossen, ab sofort auch Olivenöl in der Verkostungstheke im Laden anzubieten. Sie sah ihre Mutter an und stellte fest, dass sie in Momenten, in denen sie ihr Gesicht entspannte und dachte, dass niemand sie beobachtete, aussah, als wäre sie den Tränen nahe. Diese Verletzlichkeit war neu an Bets. Als Kind hatte Calliope ihre Mutter stets als stark und unnahbar empfunden, wie Granit. Ihre Augen hatten die gleichen schwarzen Flecken.
»Alles in Ordnung?«
»Es war eine lange Woche. Allein zu wissen, dass meine Mutter der älteste Mensch der Welt ist, gibt mir das Gefühl, steinalt zu sein.«
Calliope zog die Augenbrauen hoch. Sie selbst hatte die Nachricht beflügelt, sie fühlte sich jünger, und ihr Leben schien sich wie ein Teppich vor ihr auszurollen. Wenn Anna mit hundertdreizehn Jahren gesund und munter war, dann hatte Calliope noch nicht einmal die Hälfte ihres Lebens hinter sich.
Zum ersten Mal, seit sie nach ihrem Unfall nach Kidron zurückgekehrt war, hatte sie das Gefühl, dass sie sich Zeit lassen konnte, bis sie wieder fortging. Die Stadt war kein Gefängnis mehr, und die Angst, die sie dort festgehalten hatte, verdampfte wie Reinigungsalkohol. »Du siehst nicht älter aus als vorher«, sagte sie und setzte sich zu ihrer Mutter an den Tisch.
»Was ist mit dem Öl?«
»Fang nicht wieder damit an.«
»Das tue ich nicht. Es ist nur, manchmal erinnerst du mich zu sehr an Frank und Onkel Wealthy, und das bereitet mir Sorgen.« Bets blinzelte langsam, dann stellte sie ungeduldig ihre Frage. »Stimmt es denn? Kann es wirklich so viel, wie du behauptest?«
Calliope wusste, dass sie ihrer Mutter die Wahrheit sagen konnte. Solange sie denken konnte, vertrauten die Menschen ihr Geheimnisse an, doch Calliope wollte sie nicht weiter belasten.
»Es ist kein Betrug«, sagte sie.
»Es sind die Oliven deines Vaters, nicht wahr? Ich erinnere mich, wie Frank mir von ihnen erzählt hat. Ich habe nie verstanden, was daran so besonders sein soll, aber ich konnte auch nie so gut mit den Früchten wie du.«
»Was glaubst du, warum Anna so alt ist?«
Ihre Mutter sah aus, als überlegte sie, ihr eines ihrer lang gehüteten Geheimnisse anzuvertrauen. »Deine Großmutter ist eine einzigartige Frau. Was sagt denn dein Freund dazu?«
Calliope spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen, und ärgerte sich, dass sie in ihrem Alter noch erröten konnte. »Er denkt, dass eine unserer Gensequenzen verhindert, dass unsere Zellen bei der Teilung degenerieren.«
»Das würde ich als Grund akzeptieren. Aber was macht unsere Gene so besonders?« Ihre Mutter fragte das, als wüsste sie die Antwort bereits.
»Mutation«, antwortete Calliope.
Bets
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