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Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Miller Santo
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San Francisco an den Mantel geheftet hatte. Auf dem Billett war handschriftlich vermerkt, dass Anna 1898 als vierjähriges Mädchen in Begleitung seiner Eltern Mims und Percy Davison in den Vereinigten Staaten angekommen war. Außerdem hatten sie Annas Sozialversicherungsausweis und ihren abgelaufenen Führerschein gefunden.
    Mit zitternden Händen rief Calliope den wissenschaftlichen Mitarbeiter zurück. Geduldig hörte er sich ihre Ausführungen an, dann seufzte er schwer. »Haben Sie schon einmal von Carrie White gehört? Oder von Shigechiyo Izumi?«
    »Nein«, erwiderte Calliope und ließ sich schwerfällig am Tisch nieder.
    »Laut Carrie Whites Angehörigen wurde sie hundertsiebzehn Jahre alt, wobei der einzige Nachweis dafür das Alter auf dem Aufnahmeformular des Sanatoriums war, in das sie ihr Ehemann gebracht hatte, als sie etwa dreißig war. Shigechiyo Izumi starb angeblich im Alter von hundertzwanzig Jahren, doch wie sich herausstellte, hatte seine Familie die Geburtsurkunde seines älteren Bruders vorgelegt, um sein Alter zu beweisen. Die beiden hatten den gleichen Namen.«
    »Aber wir haben viel mehr vorzuweisen. Ich bin mir sicher, Hong Wu hatte keine Geburtsurkunde. Seine gesamte Familie wurde von einer Flut fortgespült.«
    »Das stimmt allerdings. Das Billett der Einwanderungsbehörde ist gut, die beiden anderen Dokumente sind hingegen lediglich Früchte eines vergifteten Baums. Das heißt, sie könnten gültig sein oder aber auf falschen Angaben beruhen. Läge die Entscheidung bei mir, würde ich mehr Nachweise verlangen. Erzählen Sie mir noch einmal die Geschichte Ihrer Großmutter«, sagte der Mann.
    Calliope erzählte ein weiteres Mal, was sie über ihre Großmutter wusste. Anschließend gab sie den anderen am Tisch zu verstehen, dass sie etwas zu schreiben brauchte, um zu notieren, welche weiteren Dokumente hilfreich sein könnten.
    Calliope betrachtete die hingekritzelte Liste. »Wir brauchen mehr Beweise.«
    Erin kochte für alle Mittagessen, dann suchten sie weiter nach Belegen dafür, dass Anna Davison Keller am 18. Januar 1894 geboren war. Erin rief einen Cousin zweiten Grades an, der Wealthys Grundbesitz in Alaska verwaltete, um zu fragen, ob dort eventuell ein Tagebuch oder Briefe ihres Urgroßonkels verwahrt würden.
    Bets machte sich auf den Weg zum Meldeamt und ins Stadtarchiv, um offizielle Daten von Anna aufzuspüren. Sie hatte nicht gerade großes Interesse daran gezeigt herauszubekommen, was Anna noch über ihre Zeit in Australien wusste. Erin hingegen löcherte Anna mit Fragen, und auch Calliope ließ sich von Annas Geschichten in ihren Bann ziehen. Seit Jahren hatte sie nicht so aufmerksam zugehört.
    »Die bauen in Australien Oliven an?«, fragte Erin ungläubig. Keller saß auf ihren Knien und wurde mit Guckguck bei Laune gehalten. »Kam Grandpa Davison hierher, weil er wusste, wie man Oliven anbaut?«
    Anna musste lachen, wenn Keller lachte. Das Spiel schien sie ebenso zu amüsieren wie den Kleinen. Sie fing an, eine Geschichte über eine riesige Schildkröte zu erzählen und klang, als würde sie aus einem Bilderbuch vorlesen. »Es war einmal ein neugieriges kleines Mädchen, das nichts lieber tat, als die Welt zu erforschen.«
    Calliope hatte mehr und mehr das Gefühl, diese Geschichte schon einmal gehört zu haben. Sie überlegte, ob es vielleicht am Sprechrhythmus liegen mochte, doch als Anna die Arme ausstreckte, um zu zeigen, wie groß die Schildkröte war, wurde ihr klar, dass sie diese Geschichte sowie ein Dutzend ähnlicher in dem Sommer gehört hatte, in dem sie sich von ihrem Unfall erholte. Kein Abend war in jenem Jahr vergangen, an dem ihr Anna nicht das Märchen von einem neugierigen kleinen Mädchen in einem aufregenden fremden Land erzählt hatte. Da gab es Geschichten über die Schildkröte, über einen kranken kleinen Jungen, über ein Mädchen, das auf einem Baum lebte, über eine freundliche Wäscherin und viele mehr, die tiefe Gefühle in ihr wachriefen. Die Erinnerung daran war scheinbar jahrelang verschüttet gewesen.
    »Das neugierige kleine Mädchen bist du«, fiel ihr Calliope kurz vor dem großen Finale ins Wort. »Jetzt endlich komme ich darauf.«
    Anna zuckte mit den Schultern. »Ich schätze schon. Ich bezweifle allerdings, dass noch viel Wahres in den Geschichten steckt. Ich habe im Laufe der Jahre immer mehr hinzugefügt, während ich sie all den Kindern, Enkeln, Urenkeln und …« Sie hielt inne, und Calliope konnte sehen, wie sie versuchte

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