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Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Miller Santo
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sich der Gesichtsausdruck ihrer Mutter veränderte, während Erin weitersprach. Annas Blick verfinsterte sich geradezu, und ihre Kiefermuskeln erschlafften. Sie sank auf einen der Küchenstühle und nestelte an den vergilbten Blättern herum. »Ich dachte immer, dass das nicht wahr sei. Ich habe oft von ihnen geträumt, und manchmal bin ich aufgewacht und habe noch ihr Lachen gehört.« Sie schüttelte den Kopf. »Was rede ich da für einen Unsinn. Ich sollte euch sagen, dass ich es immer gewusst habe. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt.«
    »Keine von uns hatte je eine Schwester«, sagte Calliope. Sie war bestürzt, wie verändert Anna mit einem Mal wirkte, wie sie vor ihren Augen regelrecht gealtert zu sein schien.
    Anna sagte: »Ich hätte sie so gern hier in Kidron gehabt. Ich habe Mims immer nach Kindern gefragt, sie regelrecht um Geschwister angebettelt. Sie hat mir gesagt, dass sie nach Violet zu einer Art brütenden Henne geworden war, die nur noch auf den Eiern herumsitzen wollte, die sie schon hatte, aber keine neuen mehr legen.«
    Aus dem Schlafzimmer drang Kellers zartes Weinen zu ihnen herüber, und Erin lächelte. »Ich gehe dann mal brüten«, sagte sie und verließ die Küche, um ihren Sohn zu stillen.
    Bets erschien schon angezogen in der Küche. »Warum sprecht ihr über Hühner?«
    Der Hund bellte und scharrte an der Hintertür.
    Anna, die wieder und wieder die Passagierliste durchgegangen war, schob sie ihrer Tochter hin. »Ich hatte Schwestern«, sagte sie.
    Bets ließ den Hund hinaus. »Wer will Haferbrei?«, fragte sie und begann, Topf und Milch herzurichten.
    »Glaubt ihr, wir wären anders, wenn wir Schwestern gehabt hätten?«, fragte Calliope. Sie erinnerte sich, wie verzweifelt sie sich als Kind eine Schwester gewünscht hatte, als Gegengewicht zu ihren Brüdern. Eine Zeit lang hatte sie versucht, sich Lucy, die am Fuße des Hügels wohnte, zu ihrer besten Freundin zu machen – sie schlossen sogar Blutsschwesternschaft –, doch es war nicht dasselbe wie eine richtige Schwester.
    »Ich wüsste nicht, was dadurch großartig anders gewesen wäre«, antwortete Bets. »Es gibt genug Frauen in unserer Familie.«
    Calliope war überrascht, dass Anna diese Meinung nicht teilte. »Eine Mutter oder Großmutter ist mit einer Schwester nicht zu vergleichen«, sagte sie. »Sieh dir deine Brüder an und wie sie die gemeinsamen Erfahrungen ihrer Kindheit zusammengeschweißt haben.«
    »Daddy war ja auch kaum da, wen wundert es also, dass sie sich aneinandergeklammert haben«, entgegnete Bets, während sie den Haferbrei umrührte.
    Anna schüttelte den Kopf. »Du wirst das besser verstehen, wenn ich einmal tot bin. Egal, wie ähnlich wir beide uns im Alter geworden sind, wir sind nicht auf der gleichen Ebene. Und genau das sind Geschwister.«
    Bets ließ den Holzkochlöffel gegen den Rand des Topfes donnern. Calliope blickte vom Tisch auf und sah, dass ihre Mutter mit einer ruckartigen Bewegung das Gewürzfach aufriss und die Einmachgläser und Flaschen wütend hin und her schob, bis sie den Zimt gefunden hatte. Mehr an die Wand als an sie gerichtet sagte Bets dann: »Du wirst niemals sterben. Du wirst weiterleben und weiterleben und weiterleben und weiterleben.«
    »Das könnte ich«, sagte Anna. Sie kniff den Mund zusammen und presste ihre Lippen so fest aufeinander, dass alle Farbe aus ihnen entwich.
    Der Deckel der Zimtdose gab nach und landete im Haferbrei. Bets schrie auf, dann wirbelte sie unvermittelt zu ihrer Mutter herum. »Du willst ja gar nicht sterben. Dafür bist du nämlich viel zu gierig. Du schaffst es nicht, loszulassen und uns andere ein Leben leben zu lassen, mit dem du nichts zu tun hast.«
    »Was bitte ist falsch daran, leben zu wollen? Dafür hat Gott uns auf die Erde geschickt«, entgegnete Anna.
    Der Haferbrei drohte anzubrennen. Calliope wollte ihn vom Herd nehmen, hielt jedoch inne, als ihre Mutter den Holzkochlöffel gegen die Wand feuerte. Sie ging auf Anna zu und sagte ihr direkt ins Gesicht: »Dann lebe! Aber erwarte nicht, dass ich dir hinterhertrotte.«
    Anna versetzte ihrer Tochter einen Stoß gegen die Brust. »Na, los. Dann stirb. Hör auf, nur darüber zu reden, tu es endlich!«
    Calliope schnappte nach Luft.
    »Was zum Teufel ist hier los?«, fragte Erin und nahm den Topf mit dem angebrannten Haferbrei vom Herd. »Der Kleine schläft. Ihr beide seid schrecklich.«
    »Das alles ist einfach so ermüdend«, sagte Bets und setzte sich an den Tisch. Calliope

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