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Der Olivenhain

Der Olivenhain

Titel: Der Olivenhain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Courtney Miller Santo
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auszurechnen, wie viele »Urs« sie noch hinzufügen musste, um bei Kellers Generation anzugelangen.
    »Urururenkel«, erklärte Erin. »Das klingt jetzt wirklich wie ein Märchen.«
    Im Laufe des Nachmittags erzählte ihnen Anna noch viele weitere Geschichten. In Brisbane hatte die Familie unweit des Botanischen Gartens gewohnt. Dort durfte jedes Kind für fünf Cent auf einer riesengroßen Schildkröte reiten, von der es hieß, sie sei eines jener Exemplare, die Darwin von seiner Reise auf die Galapagos-Inseln mitgebracht hatte. Wealthy erklärte Anna damals, die Schildkröte sei die Königin der Reptilien.
    Erin unterbrach sie. »Bist du auch auf ihr geritten?«
    Anna nickte. »Ich weiß nicht, woher ich die fünf Cent hatte, aber ich bin auf ihren Rücken geklettert, und sie hat mich spazieren getragen. Zum Abschied habe ich sie auf die Nase geküsst.«
    Calliope wandte sich an Erin. »Diese Geschichte hat sie mir auch schon einmal erzählt, nur fing sie damals an mit: ›Es war einmal in einem fernen, fernen Land‹, und durch den Kuss erlangte das Mädchen ein langes Leben – so lange wie das der Schildkröte, die schon über hundert Jahre alt war, als das Mädchen sie küsste.«
    Bobo legte den Kopf schief, als wollte er sich in das Gespräch einbringen. Anna kraulte ihm den Kopf und lächelte verschmitzt. »In jedem Märchen steckt ein Körnchen Wahrheit, andernfalls bräuchte man es nicht zu erzählen.«
    »Daran kannst du dich unmöglich erinnern«, wandte Calliope ein. »Du kannst damals nicht älter als vier Jahre gewesen sein, es sei denn, deine Eltern haben nicht die Wahrheit gesagt, und du bist älter als angenommen.«
    Erin öffnete eine der Kisten und bat um eine weitere Geschichte, während sie modrig riechende lederne Bände zutage förderte.
    »Viel mehr weiß ich von Australien nicht«, sagte Anna. Sie nahm Erin ein Buch aus der Hand und sah sich den Buchdeckel an. »Daddys Wirtschaftsbuch. Seine Aufzeichnungen über die Erträge.«
    »Dann erzähl uns von Kidron. Wie war es, als du hierhergekommen bist?«
    »Staubig«, sagte Anna und musste beim Umblättern der Seiten husten. Sie reichte Calliope das Buch. Die Seiten waren brüchig und zerbröselten teilweise, als sie es durchblätterte. »Nutzlos.«
    »Wir brauchen etwas von meiner Mutter«, sagte Anna. »Daddy hatte ein Händchen für Zahlen und Details. Er konnte anhand einer Blüte erkennen, wie groß die Olive einmal werden würde. Doch mit Menschen konnte er nicht gut. Er hat immer gesagt, dass er Mims geheiratet hat, damit sie sich um die Menschen in seinem Leben kümmert.«
    Erin, die das Baby für seinen Mittagsschlaf hingelegt hatte, setzte sich auf den Boden vor eine Kiste mit der Aufschrift »Mims«. Leise vor sich hin summend packte sie zunächst eine Holzpuppe aus, dann einen kleinen Kranz unter einer Glasglocke.
    »Der ist aus Haaren gebunden«, sagte Anna und streckte einen Finger nach dem Kranz aus.
    Inmitten der fein gearbeiteten Blüten und Knoten, aus denen der Kranz bestand, waren Haarsträhnen in zwei verschiedenen Farbtönen zu erkennen: ein kupfernes Gold und ein Gelb, das so hell war, dass es fast weiß wirkte, als Calliope es gegen das Licht hielt. Während Erin sofort von Anna wissen wollte, wie man einen solchen Kranz bastelte, versuchte Calliope, lieber nicht darüber nachzudenken. Sie hatte lange, schmierige Haarsträhnen vor Augen, die aus einem Badewannenabfluss gezogen wurden, und ihr wurde übel bei dem Gedanken, wie Mims sie stundenlang zusammengeknotet und um Draht gewickelt haben musste.
    In ein Stück Nussbaumholz, das die Unterseite der Glocke bildete, war ein Datum geschnitzt. L und C 1893 bis 1898. »Ich frage mich, wer das war«, sagte Erin. »Weißt du das, Anna?«
    Anna schüttelte den Kopf. Sie griff nach dem Kranz und ließ ihre Finger über die Buchstaben gleiten. »Ich erinnere mich, dass er in Mims Schlafzimmer hing. Neben den Bildern von uns und später von unseren Kindern.« Sie schloss die Augen, und Calliope fand, sie sah aus, als würde sie sich an etwas erinnern, doch als sie die Augen wieder öffnete, sagte sie nur, dass heute niemand mehr Zeit für solch filigrane Arbeiten hätte.
    Erin rückte ihren Still-BH zurecht. »Ich kann verstehen, warum ihr damals solche Dinge gebastelt habt. Wir haben heute so vieles, woran wir uns festhalten können. Ich habe allein jetzt schon gefühlte tausend Bilder von Keller, und ich kann mir gar nicht vorstellen, was ich ohne sie machen sollte, wie ich

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