Der Olivenhain
sprechen, allein. Da waren Dinge, die sie über ihren Vater und Guy wissen wollte. Und sie wollte sich von Anna verabschieden, deren Ende zwangsläufig nahte, auch wenn sie vielleicht noch ein paar Jahre vor sich hatte. Sie hatte Angst, später etwas zu bereuen. Der Tod ihres Mannes war damals so plötzlich und lautlos eingetreten, dass sie sich nicht voneinander verabschieden konnten, und das bereute sie.
Ihre Mutter öffnete die Tür, noch bevor Calliope sie erreicht hatte. »Wo ist Doktor Hashmi?«
»Er kommt später. Wir haben heute Morgen zusammen Daddy besucht«, sagte Calliope. »Lust auf einen Spaziergang?«
Bets sah erst zum Himmel hinauf, dann wieder zu Calliope. »Es scheint ein guter Zeitpunkt zu sein, das Haus zu verlassen.« Während sie die Treppe hinunterging, knöpfte sie sich ihre alte Hausjacke zu und zog ihre Plastikregenhaube aus der Tasche.
»Es wird nicht regnen«, sagte Calliope.
»Vielleicht ja doch«, erwiderte Bets.
Sie gingen den Weg entlang, der von der Vordertreppe zum Hain führte, und bogen in den überwucherten Pfad zu Franks Bäumen ein. Im Hain war es kein bisschen dunkler, die Bäume waren kaum eineinhalb Meter hoch. Das Licht hingegen war anders. Es wurde von den Blättern erst absorbiert und dann gebrochen. Bei wolkigem Himmel kam das Grau der Blätter wesentlicher stärker zur Geltung. Die Elstern zwitscherten aufgeregt, als die beiden Frauen den Pfad entlangliefen, aber als sie sich an ihre Anwesenheit gewöhnt hatten, beruhigten die Vögel sich.
»Das Öl aus Daddys Oliven ist schon ausverkauft«, sagte Calliope, als sie die Holzbank erreichten, die ihr Vater gebaut hatte. Die Sitzfläche war aus einem alten Baum gezimmert, in den einst der Blitz eingeschlagen hatte. Ihr Vater hatte den Stamm eigenhändig zersägt, geschliffen und dann geölt.
»Die Menschen sind alle gleich«, sagte ihre Mutter. »Immer suchen sie nach der einfachen Lösung, glauben bereitwillig an Quacksalberei, aber erklären einem gleichzeitig, dass es auf keinen Fall Hokuspokus ist.«
»Es kann ihnen keinen Schaden zufügen«, erwiderte Calliope. »Es ist ja nicht so, als wüssten wir, warum Anna so lange lebt oder du oder Daddy.«
»Falsche Hoffnung ist eine gefährliche Waffe«, erwiderte ihre Mutter.
»Hoffnung ist Hoffnung.« Calliope wollte das Thema wechseln. »Wenn man schon weiß, dass man vergänglich ist, hat man wenigstens ein bisschen falsche Hoffnung verdient. Im Übrigen hat sich das alles für mich sowieso erledigt.« Sie hatte ein Angebot für den Laden bekommen, das hoch genug war, um das Öl hinter sich zu lassen, um Kidron hinter sich zu lassen und mit Amrit in den Osten zu ziehen.
Bets nahm ihre Hand. »Das freut mich. Ich wollte dir nicht sagen, dass es ein Fehler war, aber das war es. Ich hatte Angst, dass jemand es kaufen könnte, der ernsthaft krank ist. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich nach deinem Unfall damals alles getan hätte, damit du wieder gesund wirst. Und jetzt geht es deinem Vater schlecht. Ich würde alles dafür geben, dass er sein Gedächtnis zurückerlangt.«
Calliope erzählte ihrer Mutter von ihrem Besuch im Golden Sunsets, davon, wie ihr Vater sie mit seiner Schwester verwechselt hatte. Sie erzählte ihr von Amrit und wie ihr Vater auf ihn reagiert hatte. Ihre Mutter lachte und sah plötzlich jünger aus. Calliope wollte Bets Fragen über Franks Beziehung zu Guy stellen, seit wann sie schon vermutete, dass er Männer mochte, doch sie wusste nicht, wie sie anfangen sollte.
»Sie halten Händchen«, sagte sie.
»Guy ist ein guter Freund«, erklärte ihre Mutter.
Sie wollte mehr von ihr erfahren, über ihre Ehe, über ihre Brüder, aber sie wusste, dass ihre Mutter eine Meisterin darin war, Geheimnisse für sich zu behalten. Würde sie sie bedrängen, so wie sie es ein Dutzend Mal zuvor getan hatte, würde ihre Mutter einfach gehen. Sich mit Arbeit ablenken.
Sie hatte ein gewisses Stocken in der Stimme ihrer Mutter vernommen, als sie Guy erwähnt hatte, und das verriet ihr, was sie hatte wissen wollen. Bets war nicht blind gegenüber der Veränderung, die mit ihrem Vater vor sich ging, und sie fragte sich nun, ob es überhaupt eine Veränderung war. Was hätte ein Mann in den Vierzigerjahren schließlich tun sollen, der Männer Frauen vorzog? Es gab damals keine Paraden, Hymnen oder Handbücher für das Coming-out. Ihr ließ der Gedanke keine Ruhe, dass die Gefühle zwischen ihren Eltern nicht aufrichtig waren, dass ihre Liebe nicht echt war,
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