Der Olivenhain
war kein Gebet, wie es Calliope aus ihrer Kindheit kannte. Es war das reine Flehen, das größtenteils aus »Bitte, lieber Gott, bitte, bitte« bestand.
Vorne im Camaro neben Calliope saß Erin. »Peng«, sagte das kleine Mädchen. Sie hatte ihre Emily-Erdbeer-Puppe im Schoß sitzen, die Bets gegen die Regina-Regenbogen-Puppe ausgetauscht hatte, die sie im Arm gehalten hatte, als ihr Vater erschossen wurde. Sie zielte mit ihren Fingern auf den Kopf der Puppe und sagte wieder »Peng.«
Joy Fielding hatte an diesem Abend Dienst in der Anmeldung. Sie hatte einen kleinen, strengen Mund, so klein wie ein Olivenkern, und ihre Lippen waren derart blass, dass sie fast gelb wirkten. Sie war schon in der Highschool verbittert gewesen. Calliope und sie waren zusammen zur Schule gegangen, jedoch nicht befreundet gewesen. Als Calliope sah, wie Joy beim Anblick ihrer Familie im flackernden Neonlicht irritiert ausatmete, wurde ihr klar, dass der Familie Keller von nun an ein schlechter Ruf vorauseilen würde.
Sie trug Anna auf, mit Bets zu gehen, sie selbst blieb mit Erin im Warteraum. Calliope fragte sich, was das Mädchen wohl über Waffen dachte. In Calliopes Leben waren sie stets präsent gewesen: Ihr Vater hatte gejagt, ebenso ihr Ehemann. Sie hatten die Kriege erlebt und waren alle mit Cowboy-und-Indianer- oder Bankräuber-Spielen groß geworden, hatten mit ihren Fingern aufeinander gezielt und genau wie Erin Peng gerufen.
Erin war ein merkwürdiges Kind. Sie hatten sich darauf eingestellt, sie mit Samthandschuhen anzufassen – auf Zehenspitzen um sie herumzuschleichen und im Flüsterton über Deb zu sprechen –, doch das Mädchen fand sich mit dem Tod ihres Vater leichter ab, als sie erwartet hatten.
Sie gehörte nicht zu den Kindern, die sich über ihr Schicksal ausschwiegen. Im ersten Jahr, das sie bei Anna und Bets verbrachte, redete sie praktisch permanent davon: erzählte dem Bankangestellten, dass ihre Mutter im Gefängnis war, fragte den Regalauffüller im Lebensmittelgeschäft, ob er schon einmal eine Schusswaffe abgefeuert hatte, und lag ihnen allen mit Fragen über ihre Eltern in den Ohren.
Erin sah zu Calliope auf. »Warum hat Grandpa Frank auf die Bäume geschossen?«
»Ich weiß es nicht, Liebling«, antwortete Calliope. Ihr Bein tat weh, und sie hätte sich gern mit Erin auf den Boden gesetzt und gespielt, doch sie befürchtete, dass sie anschließend nicht mehr würde aufstehen können. Sie streckte ihre Arme nach dem Mädchen aus und drückte sie fest an sich. »Ich denke, Grandpa Frank ist krank.«
»Er ist lustig«, erwiderte Erin. Sie kletterte auf Calliopes Schoß und begann, mit ihrer Emily-Erdbeer-Puppe und einer zweiten Puppe zu spielen, die sie in einem Korb in der Ecke des Wartebereichs gefunden hatte. Die gefundene Puppe war schmutzig und hatte kaum noch Haare auf dem Kopf. Ihre Augen sollten sich eigentlich öffnen und schließen, doch eines klemmte und ging nicht mehr auf. Erin ließ die Puppen miteinander sprechen.
»Wer bist du?«, fragte die Einäugige.
»Ich bin ich«, antwortete Emily Erdbeer. »Du weißt doch, wer ich bin.«
»Wer bist du?« Erin riss die Einäugige in die Höhe, sodass sie auf die andere Puppe herabschaute, und stellte die Frage ein drittes Mal.
Calliope gab ihrer Enkelin einen Kuss auf den Kopf. »Er weiß, wer du bist«, sagte sie. »Er hat es ein Weilchen vergessen, aber er wird sich wieder erinnern.«
In diesem Moment kamen Polizeibeamte mit Frank durch die Tür. Als Calliope ihren Vater sah, in Handschellen und unzusammenhängendes Zeug vor sich hin murmelnd, konnte sie nicht anders. »Daddy!«, schrie sie.
»Daddy«, ahmte Erin sie nach.
Frank sah sie an, doch Calliope erkannte, dass er nicht wusste, wer sie waren. Erin hatte die einäugige Puppe fallen lassen und umarmte fest ihre Emily Erdbeer. »Das ist dein Daddy«, sagte sie und tätschelte Calliopes Wange.
»Mein Daddy«, bestätigte Calliope.
»Er ist weg«, sagte Erin, und Calliope drehte sich nicht um, um zu schauen, ob sie damit meinte, dass er in ein Untersuchungszimmer gebracht worden war.
Ihre Enkelin schmiegte sich an Calliopes Schulter und begann, am Daumen zu lutschen, und obwohl ihr Bein wie Feuer brannte, wiegte Calliope sie so lange vor und zurück, bis die Kleine eingeschlafen war. Zwei Wochen später, ihr Vater war inzwischen ins Seniorenheim Golden Sunsets gebracht worden, zog Calliope zu ihrer Mutter und Anna nach Hill House.
Calliope sah zu ihrem Vater hinüber und
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