Der Orden
Wurzeln junger Eschen und Erlen sprengten das Kopfsteinpflaster und setzten die Erde erneut der Sonne aus. Regina erhaschte einen Blick auf Waldgeschöpfe – Wühl- und Feldmäuse – und sogar auf Tiere, die von diesen kleinen Kolonisten lebten, wie Füchse und Turmfalken. Es schien, als zögen nach Jahren des Leerstands die ursprünglichen Besitzer des Landes wieder ein. Aber es herrschte eine unheimliche Stille an diesem Ort – nicht einmal Vogelgezwitscher war zu hören.
Auf ihrem Weg durch die Stadt wandten einige der Jüngeren in der Gruppe den Blick von den monumentalen Ruinen ab und sprachen leise Gebete an die Götter der Christen und andere Gottheiten. Aber Regina trauerte stumm. Diese mit Efeu bedeckten Steine erzählten ihr beredter vom Ausmaß der generationenlangen Katastrophe, die Britannien ereilte, als jeder Historiker, selbst Tacitus, es vermocht hätte. Und wie seltsam, dachte sie, dass nichts davon das Werk der Pikten oder der Sachsen war – keine dieser Räuber waren bisher so weit nach Westen vorgedrungen, schon gar nicht in ausreichender Zahl, um derartige Verwüstungen anzurichten. Die Stadt war ganz von allein zugrunde gegangen. Es war so, wie Aetius und Carausias es vorausgesehen hatten: Sobald die Menschen aufhörten, ihre Steuern zu bezahlen, verloren die Städte ihre Daseinsberechtigung und verfielen. Vielleicht hatte aber auch Amator Recht gehabt, dass die Stadt einfach ein Relikt eines tausend Jahre alten Traums war, aus dem die Menschheit jetzt abrupt erwachte.
Wie sich herausstellte, war ihr Ziel nicht die Stadt selbst, sondern ein Friedhof, der sich über einen nahe gelegenen Hang ausbreitete.
Er war riesig, und die Gräber standen dicht an dicht, sodass er wie mit Fliesen, Sandstein und Marmor gepflastert wirkte; hier mussten tausende begraben sein. Andere Gruppen waren bereits an der Arbeit: Sie stemmten Grabsteine, Sandstein- oder Marmorplatten, mit Holz- und Eisenhacken hoch. Die Arbeit wurde von einigen Soldaten aus Artorius’ Truppe beaufsichtigt. Sie ließen nicht nur die anderen schuften, sondern packten selbst mit an, in der Sommerhitze nackt bis zur Taille.
»Das ist also unser ›Steinbruch‹«, sagte Regina. »Ein Friedhof, den wir für ein paar Steine entweihen.«
Brica zuckte die Achseln. »Was spielt das für eine Rolle? Die Toten sind tot. Wir brauchen die Steine.«
Regina verspürte eine Art Schock. Wenn sie sich mit sieben oder sogar siebzehn Jahren jetzt hätte sehen können und erfahren hätte, was sie tun musste, um am Leben zu bleiben, wäre sie entsetzt gewesen. Und sie registrierte mit einer Anwandlung von Traurigkeit, dass Brica, die noch so jung war, nichts weiter dabei fand. Wie tief wir gesunken sind, dachte sie.
Seltsamerweise war mitten auf dem Friedhof ein kleines Gehöft mit einer Scheune und ein paar Getreidegruben errichtet worden. Eine Frau verkaufte Nahrung an die Arbeiter im Tausch gegen Nägel und andere Eisenteile. Vielleicht hatten die Knochen der Toten den Boden fruchtbar für Gemüse gemacht, dachte Regina morbide.
Da weder sie noch Brica kräftig genug waren, um Grabsteine auszugraben, wurden sie dazu eingeteilt, mit Eimern an einem Fluss Wasser zu holen, damit die Arbeiter trinken und sich den Staub abwaschen konnten. Sie gingen zwischen den geöffneten Gräbern hindurch und stiegen über zertrümmerte Steine.
Regina blieb an einem Grab stehen, dessen Stein noch heil genug war, dass man die lateinische Inschrift lesen konnte.
»Dis Manibus Lucius Matellus Romulus… › Mögen die Geister der Unterwelt Lucius bei sich aufnehmen, geboren in Spanien, gedient im Reiterregiment der Vettonen, zum römischen Bürger geworden und an diesem Ort im Alter von 46 Jahren gestorben.‹ Und hier ist das Grab seiner Tochter – Simplicia –, gestorben im Alter von zehn Monaten, ›eine ganz und gar unschuldige Seele‹. Was der arme Lucius wohl denken würde, wenn er sehen könnte, was wir heute tun?«
Brica zuckte die Achseln, schwitzend, schmutzig, ohne sonderliches Interesse. »Wer sind all diese Leute? Hatten sie etwas mit der Stadt zu tun?«
»Natürlich. Das waren die Bürger – kann sein, dass hier die Toten von Jahrhunderten liegen.«
»Warum sind sie nicht in der Stadt beerdigt worden?«
»Weil das verboten war. Außer bei Säuglingen, die ohnehin nicht als Personen galten… So lautete das Gesetz.«
»Das Gesetz des Kaisers. Jetzt machen wir unsere eigenen Gesetze«, sagte Brica.
»Oder irgendein Schläger wie Artorius
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