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Der Orden

Der Orden

Titel: Der Orden Kostenlos Bücher Online Lesen
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schaute weg.
    Rosa sagte: »Du wirst nicht hinausgeworfen – in dieses schreckliche Chaos –, falls du das befürchtest. Ganz im Gegenteil. Wahrscheinlich wirst du eher ins Zentrum hineingezogen.«
    »Ins Zentrum?«
    »Du wirst schon sehen. Du hast keinen Grund, dich zu schämen, Lucia. Der Orden braucht dich.« Rosa lächelte. »Es könnte nur sein, dass du für etwas anderes benötigt wirst als für Archivierung und Kalligrafie… Ah. Da wären wir.«
    Lucia war natürlich voller Fragen. Aber das Taxi hielt, und sie hatte keine Zeit mehr, sie zu stellen.
    Sie stieg aus und stellte fest, dass sie sich auf der Piazza di Rotonda befand. Der Platz wimmelte von Touristen, die zwischen Eiskremständen und Cafés hin und her eilten. Sie stand vor den klobigen Mauern eines großen Gebäudes, das wie eine Festung über ihnen aufragte – und in der Tat, sagte Rosa, sei es im Mittelalter als Festung benutzt worden, so wie die meisten alten römischen Gebäude; die Ziegelmauern seien immerhin sechs Meter dick. Dies sei das Pantheon.
    Rosa zeigte auf einen Graben, der um die Mauern herumlief. »Siehst du? Das Straßenniveau liegt oberhalb der Gebäudesohle. Seit dieses Bauwerk errichtet wurde, sind der Schutt und der Schmutz wie eine Flut angestiegen… Komm.« Sie fasste Lucia an der Hand.
    Sie gingen unter dem riesigen Säulenvorbau an der Vorderseite des Gebäudes hindurch. Obwohl die sommerliche touristische Hochsaison vorbei war, wimmelte es in dem Raum zwischen den grauen Säulen von Menschen, viele in Shorts und T-Shirts, mit Baseballkappen auf dem Kopf und winzigen Kameras in der Hand. In der Krypta waren alle adrett und gepflegt und gingen einander aus dem Weg, ohne dass man sie anrempeln musste. Aber hier nicht. Für Lucia wirkten die Menschen alle deutlich überernährt und unbeholfen. Sie kam sich vor wie in einer Rinderherde – obendrein in einer Herde langsamer und aggressiver Rinder.
    Und dann waren da die Jungen und sogar einige Männer, die sie ansahen oder vielmehr anstarrten – mit einer berechnenden Intensität, einer Gier, die sie erschauern ließ.
    Der Blick eines Jungen wirkte jedoch klarer. Er war vielleicht achtzehn Jahre alt, mit blassem Gesicht, hoher Stirn und roten Haaren, in die er eine Sonnenbrille geschoben hatte. Er starrte sie ebenfalls an, als wäre er fasziniert von ihr, aber in seinem Blick lag eine gewisse Unschuld. Er lächelte ihr sogar zu. Sie errötete und schaute weg.
    Rosa schienen die Touristen nicht zu stören. Sie strich über den kühlen Marmor einer Säule. »Mein Vater ist Buchhalter. Er hat viel in der Baubranche gearbeitet. Ich weiß, was er sagen würde, wenn er hier wäre.« Sie wechselte ins Englische. »›Stell dir mal vor, man würde eins von diesen Dingern verschieben.‹«
    »Du warst noch klein, als du in die Krypta kamst.«
    »Ja. Aber ich erinnere mich noch an ihn. Ich erinnere mich an seine Hände.« Sie spreizte die Finger. »Große, narbige Hände, muskulöse Pranken, wie die Hände eines Bauern. Er hatte immer starke Hände, obwohl er den größten Teil seines Lebens hinter einem Schreibtisch verbrachte.«
    Lucia wusste nicht, was sie sagen sollte, wie sie sich an einem Gespräch über Väter beteiligen sollte. Ihren eigenen Vater hatte sie nur ein- oder zweimal gesehen. Er war ein contadino, der hin und wieder Arbeiten in der Krypta verrichtete, ein leicht übergewichtiger, nichts sagender Mann mit einem etwas schwächlichen Lächeln. Lucia kam es schon unnatürlich vor, auch nur an den Vater zu denken.
    »Vermisst du deinen Vater?«
    Rosa lächelte hinter ihrer Sonnenbrille. »Nein, ich vermisse ihn nicht. Dafür habe ich ihn – oder hat er mich – schon vor zu langer Zeit verloren.« Sie berührte Lucia an der Schulter. »Und überhaupt, jetzt ist der Orden meine Familie. Stimmt’s?«
    Lucia wusste nicht recht, was sie darauf antworten sollte. »Natürlich.« Das brauchte nicht gesagt zu werden. Es sollte nicht gesagt werden.
    »Komm. Gehen wir hinein.«
    Lucia schaute sich um. Der rothaarige Junge war verschwunden.
    Das Pantheon umschloss einen weiten, luftigen Innenraum; dort gab es einen Altar, die Wände waren mit Gemälden und Heiligenfiguren geschmückt, und der Boden war eine kühle Marmorfläche, über die Touristen schlenderten.
    Es war das Dach, das Lucias Blick auf sich zog: eine Kuppel mit einem kühlen, geometrischen Muster, ganz anders als das Durcheinander an den Wänden. Die Konstruktion schien über ihr zu schweben. Die einzige

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