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Der Orden

Der Orden

Titel: Der Orden Kostenlos Bücher Online Lesen
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Beide kniffen die Augen gegen die Helligkeit zusammen. Rosa setzte eine kleine, schick aussehende Sonnenbrille auf, Lucia ihre schweren, blau getönten Gläser, die jedes Mitglied des Ordens bekam.
    Sie befanden sich in einem modernen Stadtviertel mit Wohnhäusern, Läden und Betrieben, ganz in der Nähe der Via Cristoforo Colombo, einer breiten, verkehrsreichen Allee, die sich von der Stadtmitte Roms nach Süden schlängelte und annähernd parallel zur alten Via Appia verlief. Rosa führte Lucia zu einem kleinen Taxistand; sie mussten ein paar Minuten warten, bis ein Wagen kam. Die Luft war klar, frisch und nicht sehr kalt.
    Lucia wusste nicht genau, wohin Rosa sie brachte. Die ältere Frau hatte kaum zwei Sätze mit ihr gesprochen, seit sie im scrinium nach ihr verlangt hatte. Aber es gab keine Fluchtmöglichkeit, genauso wenig wie vor ihren Perioden.
    Lucia unterdrückte ein Seufzen. Sie hatte Pina vergeben, was ihr wie ein weiterer Verrat erschienen war. Pina hatte nur getan, was irgendwann getan werden musste; auf ihre Weise hatte sie ihr nach bestem Wissen zu helfen versucht. Lucia musste einfach ertragen, was immer nun kommen würde.
    Das Taxi fuhr mit ihnen nach Norden, Richtung Zentrum. Sie passierten eine Lücke in der massiven, hässlichen alten aurelianischen Mauer und fuhren dann in nordöstlicher Richtung durch die von den alten kaiserlichen Ruinen beherrschten Stadtteile zur Piazza Venezia.
    Die Venezia war das Herz des römischen Verkehrssystems. Sie war nichts weiter als ein ausladendes Asphaltfeld, das sich vor dem Vittoriano erstreckte, dem grandiosen Denkmal für Vittorio Emanuele, errichtet zur Feier von Italiens nationaler Einheit, ein Berg aus Säulen und Marmor, der über die Stadtsilhouette aufragte und sogar die Relikte aus der Kaiserzeit dominierte. Auf der Venezia herrschte dichter Verkehr, der in alle Richtungen zu streben schien, und Lucia wurde es bang ums Herz, als der Taxifahrer seinen Wagen mit lebhaftem Hupen ins Gewühl lenkte. Während die Autos langsam hierhin und dorthin vorrückten, scheinbar ohne dass irgendwer einem anderen Platz machte, öffnete sich Stück für Stück ein Weg nach vorn, und der Fahrer arbeitete sich zu der gewünschten Ausfahrt vor, der nach Westen führenden Via del Plebiscito.
    Zu Lucias Überraschung nahm Rosa ihre Hand. Rosa lächelte. Ihre Augen waren verborgen. »Glaub mir, ich weiß, wie du dich fühlst. Ich weiß, wie schwer das für dich ist.«
    Rosa saß im Taxi, scheinbar unberührt von den ruckartigen Bewegungen, mit denen es sich durch den Verkehr arbeitete. Sie war elegant, gelassen, und ihr schmales Gesicht mit der kräftigen Nase wirkte freundlich, obwohl Lucia ihre Augen nicht sehen konnte. Sie war hoch gewachsen, größer als Lucia, zweifellos größer und schlanker als die meisten Ordensmitglieder, die durchweg klein und ein wenig gedrungen waren. Allerdings gehörte Rosa, wie jeder wusste, zu den wenigen im innersten Kreis des Ordens, die nicht in der Krypta geboren waren. Obwohl sie als Kind zum Orden gekommen war, klangen in ihrem flüssigen Italienisch noch Spuren von England mit, kurze Vokale und harte Konsonanten.
    »In der Schule kommen wir jede Woche hier herauf«, sagte Lucia. »In die Stadt, meine ich. Obwohl ich mich einfach nicht daran gewöhnen kann.«
    »Woran genau? An die Menschen, den Lärm – das Licht?«
    »Nein«, sagte Lucia nach kurzer Überlegung. »An das Chaos. Dass alle ständig in alle Richtungen strömen.«
    Rosa nickte. »Ja. Du weißt, dass ich in gewissem Sinn eine Außenseiterin bin. Nun, das werde ich immer sein, da kann man nichts machen. Aber es verleiht mir eine gewisse Sicht auf die Dinge. Manches an der Krypta halten wir alle für selbstverständlich und bemerken es erst, wenn es fehlt. In der Krypta ist es ordentlich, ruhig, und jede weiß, was sie tut, wohin sie geht. Selbst die Temperatur ist geregelt, die Luft ist sauber und frisch. Aber hier draußen ist es ganz anders. Hier draußen herrscht Anarchie, alles ist außer Kontrolle. Und nun hast du, Lucia, das Gefühl, dass sogar dein eigener Körper außer Kontrolle geraten ist. Und du hast Angst…«
    »Ich habe Angst, nicht mehr dazuzugehören«, platzte Lucia heraus.
    Der Fahrer hatte einen breiten, praktisch haarlosen Kopf mit einer Reihe fettiger Poren über dem Kragen. Er schien um die fünfzig zu sein. Als Lucia die Stimme ein wenig erhob, drehte er den Kopf und schaute in den Rückspiegel. Sein forschender Blick ruhte schwer auf ihr; sie

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