Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Orden

Der Orden

Titel: Der Orden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: authors_sort
Vom Netzwerk:
seinen Mitmenschen haben sollte, nicht einmal ein ganz kleines.
    Trotzdem war sie erleichtert, als sie den Fluss erreichten und die Menge sich ein wenig lichtete.
    Die Villa Borghese lag in einem Gebiet, wo wohlhabende Römer seit kaiserlichen Zeiten ihre Landsitze errichtet hatten. Es war vor den Immobilienhaien des zwanzigsten Jahrhunderts gerettet worden, indem der Staat es gekauft und als Park erhalten hatte. Lucia hatte diese Gärten mit ihren gewundenen Wegen und halb verborgenen Blumenbeeten schon immer gemocht; in ihrer Kindheit war sie mit ihren Schwestern hierher gebracht worden. Am besten mied man die Wochenenden, wenn die römische Bevölkerung in Massen hier einfiel und die Gärten mit brüllenden Kindern, schwatzenden Müttern und Vätern überschwemmte, die sich Radios ans Ohr drückten, um die Fußballergebnisse zu hören. Heute waren zwar viele Kinder da, die von ihren Müttern nach der Schule hergebracht worden waren, aber ihr Geschrei wirkte fern und verstreut.
    Lucia und Pina gingen zu einem kleinen, kreisrunden See hinunter, um den ein Weg herumführte. Am Ufer stand ein kleiner Tempel für den griechischen Gott Aesculapius. Sie setzten sich auf eine Holzbank, die schon bessere Zeiten gesehen hatte. Dick eingemummelt gegen die kühle Luft, ruderten Leute auf dem See, schickten schimmernde Bugwellen über die glatte grüne Wasserfläche und zerstörten das Spiegelbild der Götterstatue. Es war immer ein beruhigender Platz, dachte Lucia; sie war enttäuscht gewesen, als sie festgestellt hatte, dass der Tempel nur eine Reproduktion war. Pina erfüllte ihr Versprechen und kaufte ihr eine Eistüte an einem fahrbaren Stand, der nicht sehr seriös wirkte, aber von einem geduldigen Pferd gezogen wurde, das mit seinem zerbeulten Strohhut einfach unwiderstehlich war.
    Während sie ihr Eis aßen, beobachteten sie eine junge Frau in einem Jogginganzug aus Lycra, die neben ihnen saß und mit ernster Miene auf den winzigen Bildschirm ihres Handys spähte. Sie hatte einen Hund dabei, einen großen, alten und langsamen Labrador. Er tappte im getüpfelten Schatten fröhlich hierhin und dorthin. Doch als er dabei hinter eine Reihe von Geländern geriet, fand er den Rückweg nicht mehr; er lugte durch die Stangen zu seinem Frauchen und winselte theatralisch. Seine Besitzerin holte ihn zurück, streichelte ihn zum Trost und zog an seinem Halsband. Doch als sie sich wieder ihrer konzentrierten Texteingabe widmete, verirrte sich der Hund erneut in sein ideelles Gefängnis und hob mit seinem Gewinsel an. Lucia und Pina mussten lachen.
    Lucia erneuerte den Sonnenblocker auf Gesicht, Händen und Armen. Es war noch keine Stunde her, dass sie zum letzten Mal welchen aufgetragen hatte, aber ihre Haut kribbelte selbst im schwachen Sonnenlicht des Dezembernachmittags. Pina, die das Handy in einer Hand hielt, nahm jedoch ihre Sonnenbrille ab, schloss die Augen und hob ihr Gesicht der untergehenden Sonne entgegen. Es war ungewöhnlich, dass ein weibliches Mitglied des Ordens eine Haut hatte, die bräunen konnte. Lucia fragte sich, wie es wohl wäre, sich zu entspannen und den Sonnenschein auf ihrem Gesicht zu genießen, ohne die Haut davor schützen zu müssen.
    Pinas Gesicht zeigte keine Alterungsspuren, weder Runzeln noch Falten. Ihre Haut hätte einer Siebzehnjährigen gehören können. Das verwirrte die männlichen contadinos; Lucia hatte gehört, wie junge Männer Ordensschwestern, die alt genug waren, um ihre Mutter zu sein, aber viel jünger aussahen, »Ciao, bella« oder »Bella figura« nachflüsterten oder zumurmelten. Es war seltsam, vermutete Lucia. Aber sie hatte noch nie darüber nachgedacht. Es gab vieles am Leben im Orden, was sie bis zu den letzten beunruhigenden Wochen noch nie infrage gestellt, ja noch nicht einmal bemerkt, hatte. Vielleicht waren nicht die Außenstehenden seltsam, sondern der Orden. Immerhin, dachte sie, gibt es von ihnen viel mehr als von ans. Vielleicht war sie selbst zu so etwas wie einer Außenseiterin geworden und lernte nun, den Orden durch die Augen einer contadina…
    »Verzeihung.«
    Sie drehte sich um und blinzelte in die Sonne. Pina setzte ihre Sonnenbrille auf, als wäre sie eine Maske.
    Ein Mann stand vor ihnen – ein junger Mann, der sich halb als Silhouette gegen die Sonne abhob. Er trug ein blaues italienisches Fußballhemd und Jeans, die so aussahen, als wären sie von der Zeit und nicht designermäßig ausgebleicht. Unter dem Arm hatte er ein Bündel Bücher. Er war

Weitere Kostenlose Bücher