Der Orden
vatikanischen Archiv nicht von Kaisern verbrannt, von Ratten gefressen oder von Napoleon geplündert worden ist, liegen Geheimnisse verborgen, die selbst in diesen aufgeklärten Zeiten kein Papst enthüllt sehen möchte. Kein Wunder, George, dass dein zahmer Jesuit mir den ganzen Tag nicht von der Seite gewichen ist. Dieses Zeug ist hochbrisant – dein Orden hat den Papst an den Eiern!… Du musst da noch mal runter, George.«
46
»Bring mich zu Lucia. Ich will sie sehen«, sagte ich zu meiner Schwester.
Sie schüttelte den Kopf. »George, George…«
»Spar dir den Quatsch. Bring mich zu Lucia.«
Aber sie lehnte sich nur in ihrem Stuhl zurück und trank ihren Kaffee.
Ich versuchte, den Druck aufrechtzuerhalten, versuchte, sie weiterhin meinen Zorn spüren zu lassen. Aber es war schwer. Schon deshalb, weil wir nicht allein waren. In der Krypta war man nie allein.
Ich hatte Peters Drängen schließlich nachgegeben, hatte mich meinen Ängsten gestellt und war in die Krypta zurückgekehrt.
Diesmal brachte Rosa mich an einen Ort, den sie peristylium nannte. Es war ein kleiner, primitiv aus dem Felsen gehauener Raum – aber er enthielt eine Art Garten, Steinbänke, Pergolen, einen kleinen Brunnen. Es gab sogar Gewächse hier, exotische Pilze in leuchtenden, unwirklichen Farben, die in Schalen mit dunkler Erde wuchsen. Der Garten war offenkundig sehr alt; seine Wände waren von Jahrhunderten sanfter Berührungen poliert. An einem kleinen Stand gab es Kaffee, Süßigkeiten und Kuchen. Woanders wäre dies eine Starbucks-Filiale gewesen, aber nicht hier; die Kaffeebecher der Krypta trugen keine Logos.
Wie überall in der Krypta wimmelte es auch in dem kleinen Garten von Frauen unbestimmbaren Alters. Er ähnelte einem Straßencafé in einer geschäftigen Einkaufsstraße oder einem belebten Flughafenterminal mit einer dichten, in stetiger Bewegung und Veränderung begriffenen, sich niemals lichtenden Menge. Aber die Beschaffenheit dieser Menge war anders, die Art, wie die Menschen sich aneinander vorbeidrängten, lächelten, sich berührten – denn sie gehörten alle zur Familie. Sie unterhielten sich lebhaft, laut und unablässig, saßen im Kreis, die Hände um ihre Kaffeebecher gelegt, so nah beieinander, dass ihre Knie oder Schultern sich berührten. Hin und wieder küssten sie sich sogar auf den Mund, sanft, aber nicht sexuell; es war, als wollten sie einander schmecken.
Und Rosa und ich saßen mit unserem eigenen Kaffee mittendrin, in einer Blase unablässiger Gespräche, wurden fortwährend berührt – eine entschuldigende Hand legte sich kurz auf meine Schulter, ein lächelndes, grauäugiges Gesicht hing vor mir in der Luft –, und der starke, animalische Moschusgeruch der Krypta füllte mir den Schädel. Es war, als läge man in einem großen, warmen Bad. Es war nicht furchteinflößend. Aber es fiel mir verdammt schwer, einen klaren Gedanken zu fassen.
Was Rosa bestimmt wusste, denn deswegen hatte sie mich ja hierher gebracht.
Und obendrein musste ich mit meiner eigenen komplizierten emotionalen Situation fertig werden. Ich fand Rosas Gesicht immer noch außerordentlich verwirrend. Immerhin war sie meine Schwester. Sie war so vertraut, und etwas Warmes in mir reagierte in jeder Sekunde, die ich mit ihr verbrachte. Gleichzeitig war es jedoch ein Gesicht, mit dem ich nicht aufgewachsen war, und zwischen uns würde immer eine gläserne Wand sein. Es war auf stille Weise herzzerreißend.
Ich versuchte mich zu konzentrieren. »Rosa, wenn alles in Ordnung ist, warum kann ich Lucia dann nicht sehen?«
»Es gibt nichts, womit die Ärzte nicht fertig würden. Du würdest sie nur stören.«
»Sie hat mich um Hilfe gebeten.«
Sie beugte sich vor und legte mir die Hand aufs Handgelenk – wieder eine ihrer unaufhörlichen Berührungen. »Nein«, sagte sie. »Nicht sie, sondern ihr Hacker-Freund.«
»Daniel ist nicht ihr Freund.«
Sie lehnte sich zurück. »Na siehst du. Jedenfalls glaube ich nicht, dass das alles wirklich etwas mit Lucia zu tun hat.«
»Was alles?«
»Dein dringender Wunsch, wieder in die Krypta zu kommen. Hier geht es nicht um Lucia. Es geht auch nicht wirklich um mich. Es geht um dich.« Ihr Blick war unverwandt auf mich gerichtet. »Machen wir’s kurz. Die Wahrheit ist, du bist neidisch. Neidisch auf mich.«
»Blödsinn«, sagte ich schwach.
»Du weißt, dass ich es besser getroffen habe, nicht wahr? Unsere Familie hat versagt, wie so viele Kleinfamilien.« Sie sprach
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