Der Orden
sein?«
»Hier sind doch viele junge Leute zusammengepfercht. Da muss es Liebesaffären geben – flüchtige Techtelmechtel.« Ich fühlte mich unbehaglich; bei dem Versuch, solche Themen mit meiner gerade erst wiedergefundenen Schwester zu erörtern, griff ich auf Euphemismen der Fünfzigerjahre zurück. »Erlaubt ihr den Leuten, miteinander zu vögeln?«
Sie starrte mich mit eisiger Missbilligung an. »Zunächst einmal«, sagte sie, »geht es nicht darum, jemandem etwas zu ›erlauben‹. Hier gibt es niemanden, der einem etwas ›erlaubt‹ – oder verbietet, wo wir schon dabei sind. Die Leute wissen sich einfach zu benehmen.«
»Woher? Wer bringt es ihnen bei?«
»Wer bringt einem das Atmen bei? Und überhaupt ist das in der Regel kein Thema. Die meisten Männer hier sind schwul. Oder haben keinerlei Neigungen. Andere verlassen uns für gewöhnlich.« Aus ihrem Munde klang das, als wäre es das Normalste von der Welt.
Vielleicht passte das. Peter hatte in seinen langen, weitschweifigen Analysen unserer Informationen über den Orden spekuliert, er könnte eine Art Vererbungskult sein. Wie weibliche Neutren – Pina etwa – konnten auch schwule Männer bei der Aufzucht der Fruchtbaren, der Lucias, helfen. Und keine der beiden Gruppen wäre eine Bedrohung des kostbaren Genpools, weil sie nichts dazu beitrugen.
»Okay, aber – wie kommt es, Rosa, dass es hier fast nur Frauen gibt?«
Sie wirkte unangenehm berührt. »Weil hier fast nur Mädchen geboren werden.«
»Ja, aber wieso? Irgendeine Art Gentechnik?… Ihr wart doch schon lange da, bevor irgendjemand auch nur eine Vorstellung von einem Gen entwickelt hat. Also, wie schafft ihr das? Was macht ihr mit den überschüssigen Jungen? Dasselbe wie die Spartaner mit ihren weiblichen Säuglingen?«
Sie blieb stehen und funkelte mich an, zorniger denn je. »Wir bringen hier niemanden um, George. Dieser Ort ist ein Quell des Lebens, nicht des Todes.« Es war, als hätte ich jemanden beleidigt, den sie liebte – was ich ja vielleicht auch getan hatte.
»Wie dann?«
»Es gibt mehr Mädchen als Jungen. Es ist einfach so. Du stellst eine Menge Fragen, George. Aber in der Krypta mögen wir keine Fragen.«
»Unwissenheit ist Stärke.«
Wieder dieser wütende Blick. »Wenn du das wirklich verstündest, würdest du alles verstehen.« Sie ging weiter, aber ihr Gang war steif, und sie hatte die Schultern nach vorn gezogen.
Wir kamen zu einer in den Stein gehauenen Nische. Davor war ein kleiner Schrein aufgebaut worden, eine Art Altar aus hellem Marmor. Schlanke, knapp einen Meter hohe Säulen trugen ein Dach aus schön geformtem Stein. Davor war eine Glasplatte angebracht worden. Rosa blieb stehen und betrachtete ihn ehrfürchtig.
»Was ist das?«
»Etwas sehr Kostbares«, sagte sie. »Regina selbst hat den Schrein vor eintausendsechshundert Jahren gebaut, George. Seither ist sein Standort mehrmals verändert worden – diese Ebene ist erst Jahrhunderte nach Reginas Tod entstanden –, aber man hat ihn immer wieder genauso aufgebaut, wie sie es beabsichtigt hatte. Und was er enthält, hat sie von zu Hause mitgebracht… Schau hinein.«
Ich hockte mich hin und sah es mir an. Ich sah drei kleine Statuen, die in einer Reihe standen. Sie sahen wie mürrische alte Frauen mit Dufflecoats aus. Die Statuen waren schlecht gearbeitet, klobig und mit grotesken Gesichtern; sie waren nicht einmal identisch. Aber sie waren sehr alt, das sah ich, abgenutzt von vielen Berührungen.
»Die Römer glaubten, dass jeder Haushalt seine eigenen Götter hatte«, erklärte Rosa. »Und das hier waren die Götter von Reginas Familie – unsere Götter. Sie hat sie im Verlauf von Britanniens Niedergang und während ihres eigenen außergewöhnlich schweren Lebensweges aufbewahrt und nach Rom mitgebracht. Und hier sind die matres seither geblieben, genauso wie Reginas Nachfahren. Du siehst also, das hier ist unsere Heimat, meine und deine. Nicht Manchester, nicht einmal Britannien. Deshalb gehören wir hierher, denn hier reichen unsere Wurzeln am tiefsten in die Erde. Hier sind unsere Familiengötter…«
Alles nur Verkaufsmasche, sagte ich mir. Und doch war ich beeindruckt, ja sogar bewegt. Rosa machte eine Art Kniefall, bevor wir unseren Weg fortsetzten.
Ein Stück weiter kamen wir zu einem Türeingang.
Es war ein großer Raum – ich strengte die Augen an, um etwas zu sehen –, aber er hatte die Atmosphäre eines Altersheims. Im muffigen Dunkel stand eine Reihe großer Sessel. Sie
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