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Der Orden

Der Orden

Titel: Der Orden Kostenlos Bücher Online Lesen
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Sein glockenförmiges Profil stieg aus dem Eis zu beiden Seiten sanft zu dem gerundeten Gipfel an. Die Struktur war merkwürdig – von oben sah sie fasrig aus, oder wie eine unter Raureif gefangene Grasnarbe. Anders als jede Gesteinsformation, die Abil jemals gesehen hatte.
    Die Fähre kam nun beinahe zum Stillstand und sank dann zur Oberfläche des Ringelements hinunter.
    Abil sah, dass ihn die Entfernung getäuscht hatte. Diese »Fasern« waren keine Grashalme; sie waren größer. Es waren Gliedmaßen – Arme und Beine, Hände und Füße – und Köpfe: menschliche Köpfe. Der Ring war ein Totenwall, eine so große Anhäufung von Leichen, dass sie wie ein geologisches Gebilde aussah, nackt und zur Unverderblichkeit gefroren.
    Abil war verblüfft. Nichts in den Einsatzbesprechungen vor dem Abstieg hatte ihn darauf vorbereitet.
    »Es ist ein Ringfriedhof«, sagte Dower nüchtern. »Labyrinthwelten unterscheiden sich immer ein bisschen, aber das Muster ist jedes verdammte Mal gleich.« Sie ließ den Blick abrupt über die hundert Gesichter schweifen. »Kommt ihr alle damit klar?«
    »Es sind so viele«, sagte jemand. »Wenn der ganze kilometerlange Ringwall so beschaffen ist, müssen es Milliarden sein.«
    »Es ist eine alte Kolonie«, sagte Dower trocken.
    Die Fähre schwebte weiter, auf den Zentralberg zu.
     
    Am Rand eines Sees aus gefrorenem Sauerstoff landete die Fähre so sanft wie eine Seifenblase. Dower ordnete eine Überprüfung der Hautanzüge an – jede Soldatin prüfte erst ihre eigene Ausrüstung, dann die ihrer Kameradin –, und die Wände der Fähre lösten sich abrupt auf.
    Die Schwerkraft war ziemlich normal. Als Abil aus seinem kleinen, T-förmigen Stuhl kletterte, fiel er ohne Probleme den einen Meter zum Boden hinunter. Er machte ein paar Schritte, um ein Gefühl für den Boden und die Schwerkraft zu bekommen, horchte auf das Surren der exoskelettalen Server, die in seinen Anzug eingebaut waren, und prüfte Anzeigen, die in einem Display aus virtuellen Glühwürmchen vor ihm schwebten.
    Um ihn herum taten hundert Soldaten dasselbe. Steifbeinig liefen sie in der von den Scheinwerfern der Fähre erzeugten Lichtpfütze herum. Ihre Tornister glommen in trübem Grün, der Farbe von Teichwasser.
    Abil ging zum Rand des Lichts, wo es zu verschmiertem Grau verschwamm. Das Wassereis unter seinen Füßen war hart und unnachgiebig. Die Oberfläche des gefrorenen Ozeans war eingedellt und zernarbt. Hier und dort schimmerte Raureif, Kristallflecken, die das Licht seines Anzugs oder der Sterne reflektierten. Der Raureif war kein Wasser, sondern gefrorene Luft.
    Sauerstoff war natürlich ein Relikt des Lebens. Es musste hier also Leben gegeben haben – Leben, das sich vielleicht nicht allzu sehr vom ursprünglichen Leben auf der Erde unterschieden hatte –, längst vergangen, vernichtet, zerquetscht, als die Sonne zurückwich und die erbarmungslose Faust der Kälte sich schloss. Vielleicht hatte dieses Leben Intelligenz hervorgebracht: Vielleicht hatte diese Welt einmal einen Namen besessen. Jetzt hatte sie nur eine Nummer, die von den großen automatischen Katalogen auf der Erde generiert worden war – eine Nummer, die keiner jemals benutzte, denn die Teerjacken nannten sie nur »das Zielobjekt«, so wie jede andere trostlose Welt, zu der sie geschickt wurden.
    »Hierher«, rief Dower.
    Abil gesellte sich zu der Gruppe von Soldaten um Dower herum. Er fand seine durch rote Armstreifen gekennzeichnete Einheit, trat zu ihnen und zeigte seine rot-schwarzen Befehlsstreifen vor.
    »Seht euch das an.« Dower deutete auf den Rand des Sauerstoffsees.
    Fußspuren, am Ufer des Wassereises: menschliche Fußspuren, erzeugt von schweren Stiefeln im flachen Stickstof fraureif, unverkennbar.
    »Die Biosysteme des Labyrinths sind wahrscheinlich hocheffiziente Recycler, aber nichts ist perfekt. Sie brauchen immer noch Sauerstoff…«
    Abil ging zu den Abdrücken. Sein eigener Fuß war um ein paar Nummern größer. Als er dort stand, sah er, dass die Fußspuren vom Sauerstoffsee wegstrebten und einen Pfad bildeten, der fast schnurgerade zum Zentralberg verlief. Und als er in die andere Richtung schaute, über den See hinweg, sah er weitere Spuren, die zum Ring führten, dem kreisrunden Leichenhaufen.
    Die vom Ringwall strahlenförmig nach innen führenden Streifen auf dem Eis, die er zu sehen geglaubt hatte, waren in Wirklichkeit Furchen, sah er jetzt, die von unzähligen Füßen über unzählige Jahre hinweg in

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