Der Osmanische Staat 1300-1922
Reichsteilen Erfahrung gesammelt. Die russische Kriegserklärung
im Frühjahr 1877 konnte die Konferenz nicht verhindern.
Die erste osmanische
Verfassung
Das „Grundgesetz" von 1876 wies keine föderativen Elemente auf, die den in
Kernprovinzen und zahlreiche „privilegierte", d. h. halb-autonome Gebiete zerfallenden osmanischen Ländern angemessen gewesen wären. Die Person des
Sultans und Kalifen wurde als geheiligt und nicht rechenschaftspflichtig bezeichnet. Das Hoheitsrecht, das Parlament aufzulösen, sollte Abdülhamid II.
schon bald, nämlich kurz vor dem Waffenstillstand von San Stefano, wahrnehmen, ohne sich an die Bedingung zu halten, Neuwahlen auszuschreiben. Im
Vergleich zu den Edikten von 1839 und 1858 spricht die Verfassung von 1876
allerdings eine modernere Sprache. Rein rechtlich gesehen kam nun auch ein
Nichtmuslim für das höchste Staatsamt, das Großwesirat, in Frage. Näher be- trachtet beschreibt das Grundgesetz von 1876 angesichts der sehr indirekten
Mitwirkung der Kammer bei der Gesetzgebung und Budgetberatung eine
„eingeschränkte Autokratie" (DAVISON). Als das konstitutionelle Regime nach
jahrzehntelanger Suspendierung 1908 wieder in Kraft trat, erwies sich jedoch, daß
die 1876 in sie gesetzten Hoffnungen teilweise berechtigt waren. Ihrem Autor
Midhat wurde 1880 der Prozeß gemacht, sein Todesurteil in Verbannung umgewandelt. 1884 wurde er von Schergen des Sultans im arabischen Taif ermordet.
Der russisch-osmanische Krieg von 1877/78 hatte schwerwiegende territoriale
und demographische Folgen für die Osmanen. Nach dem Vorfrieden von San
Stefano (heute Yegilköy/Istanbul) wurde im Berliner Vertrag (13.7. 1878) die
Unabhängigkeit Serbiens, Montenegros und Rumäniens festgehalten und Bulgarien zum abhängigen Fürstentum erklärt. Anders als im Pariser Frieden von
1856 behielten sich die Mächte in zwei Artikeln das Interventionsrecht in Mazedonien und den „sechs (anatolischen) Provinzen (mit hohem armenischem Bevölkerungsanteil)" vor: „Die Hohe Pforte übernimmt die Verpflichtung, ohne
weiteren Verzug die durch locale Bedürfnisse in den von den Armeniern bewohnten Provinzen erforderlichen Verbesserungen und Reformen ins Werk zu
setzen und den Armeniern Sicherheit vor Kurden und Tscherkessen zu garantieren. Sie wird die in dieser Richtung gethanen Schritte in bestimmten Zeitabschnitten den Mächten bekannt geben, die ihr Inkrafttreten überwachen
werden" (Artikel 61). Eine administrative Neueinteilung Ostanatoliens bzw.
„Armeniens" und „Kurdistans" nach dem Berliner Kongreß entlang „ethnographischer" Linien, d. h. zwischen muslimischen Kurden und christlichen
Armeniern, war für die Osmanen unannehmbar und sicher auch bei gutem
Willen nicht durchführbar.
I)er Krieg
gegen Rußland
und der Berliner
Vertrag
Um dem russischen Druck in der Zukunft britische Unterstützung entgegenzusetzen, hatte die Pforte schon im Mai die Insel Zypern an England
abgetreten. Gegen den Widerstand der muslimischen und orthodoxen Bevölkerung besetzte Österreich-Ungarn Bosnien und die Herzegowina. 1885 schloß
sich Ost-Rumelien an Bulgarien an. Die Kreta-Frage beschäftigte die internationale Öffentlichkeit bis zum Abzug der türkischen Truppen und darüber
hinaus.
Abdulhamid 11.
1876-1909
Thessalien-Krieg
Der 1842 geborene Abdülhamid II. hatte bis zu seinem Thronantritt neben dem
traditionellen islamisch-türkischen Wissen Grundbegriffe „westlicher" Bildung
erworben. Seinen Onkel Abdülaziz hatte er auf Reisen nach Ägypten und Europa
begleitet. Abdülhamids Interesse für die Börse und moderne Landwirtschaft ging
einher mit einem konservativen Lebenstil und sufischen Neigungen. Nach 1878
hatte er nur einen bewaffneten Konflikt zu bestehen. Aus dem „30-Tage-Krieg"
mit Griechenland in Thessalien ging er siegreich hervor (1897). Auf dem Höhepunkt seines Ansehens im Inneren stand er im 25. Jahr seit seiner Thronbesteigung
(1900). In diesem Jahre wurde sowohl die Istanbuler Universität als auch die
Hodschas-Bahn eröffnet. Die Annäherung an Deutschland fand sichtbaren Aus druck, als ein deutsches Konsistorium 1888 die Konzession zum Bau der Anatolischen Bahn erwarb. Zwei Jahr später stimmte Deutschland unter dem Vorbehalt, daß sich andere Staaten anschließen, der Abschaffung der Kapitulationen
zu (wozu es aber erst während des Weltkriegs kam). Die Anstrengungen Abdülhamid II. zur Verbesserung der Verkehrsverbindungen und des Schulwesen
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